Isenhart
nämlich einen weiteren Ausgang – der möglicherweise ihr Blatt noch einmal wenden könnte. Ohne diesen Ausgang, da war Isenhart sich sicher, wäre sie das Risiko eingegangen, an ihm vorbeizuhuschen und sich auf den Gang zu retten.
»Gibt es unter den Verliesen einen Stollen?«, fragte er.
Isenhart zertrümmerte den Tonkrug und überprüfte die Scherben, bevor er von Konrad eine Antwort erhielt: »Nein. Warum?«
»Weil sich eine Ratte ins Gestein geflüchtet hat«, rief Isenhart, setzte mit einer Scherbe in der Fuge an und begann zu kratzen.
Er vernahm das Trippeln kleiner Füße, gefolgt von einem Platschen, ganz so, als würde man einen kleinen Stein ins Wasser werfen.
»Aha«, rief Konrad zurück, »eine Ratte.«
»Ja. Ratten flüchten sich nicht in eine Falle!«
Isenhart war der bittere Spott in Konrads Stimme, der sich nicht gegen ihn richtete, sondern gegen das Schicksal an sich, wenn es so etwas denn überhaupt gab, nicht entgangen. »Du baust wohl einen Syllogismus, nehm ich an!«, rief der junge Laurin hinterher.
Isenhart musste fast schmunzeln, während er die Tonscherbe in das Gestein trieb und sich zu seiner Freude der Fels als brüchig erwies.
»Aristoteles wird uns nicht retten!«, hörte er. Den Worten folgte ein unterdrücktes Lachen.
»Lamentieren auch nicht«, gab Isenhart zurück und nahm befriedigt wahr, wie das Lachen aus der Nachbarzelle verebbte.
»Wie kann es sein, dass er noch am Leben ist? Ich hab ihm den Dolch quer durch seine verlogenen Eingeweide gezogen.«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Isenhart. Es gelang ihm, ein Felsstück aus der Wand zu ziehen. Das Herz wurde ihm leichter, weil Konrad zu reden begonnen hatte. Im Glanz der wenigen, matten Lichtreflexe, die sich bis hierhin verirrten, nahm er etwas Dunkles wahr, das sich von rechts nach links wie ein großes, schwarzes Band wand. »Gab es früher schon einen Kanal, der das Flusswasser unter der Burg durchgeführt hat?«
»Nein.«
Isenhart nickte. Seine Erinnerung trog ihn nicht. Jemand musste also hier im Haus Laurin auf denselben Gedanken gekommen sein wie er in Heiligster, als er Wasser vom Rhein abzweigte und mit einem Schieber dosierte.
Ein Husten riss ihn aus seinen Überlegungen. Schnell presste er das Felsstück wieder an die Stelle, an der er es aus der Wand gebrochen hatten und schob etwas Stroh davor.
Isenhart hörte die zügigen Schritte, die nun, als sie sich den Verliesen näherten, langsamer wurden. Dann trat Henning an das Kreuzgitter. Seine Miene war unbestimmt. Isenhart meinte in dem Gesicht des Mannes, dem er sich am nächsten gewähnt hatte, eher Bedauern als Triumph zu entdecken.
Die ganze Nacht, die sie von Haslach bis hierher benötigten, hatten sie keinen Blick und kein Wort gewechselt. Ihre Bahnen waren wieder parallel verlaufen und hatten sich nicht mehr gekreuzt. Isenhart hatte Sophias Hand fest gedrückt und mit der Linken Konrad über Steine und Wurzelwerk geführt. Henning hatte auf seinem Pferd gesessen und geschwiegen.
Und nun standen sie sich gegenüber. Henning forschte in Isenharts Miene, um seine Haltung einzuschätzen. Und wurde aus ihm ebenso wenig schlau wie Isenhart aus ihm. Diesem fielen Hennings blutige Finger auf. Von der Braake blieb die Ursache für Isenharts Aufmerken nicht verborgen. »Ich hatte Simon gesagt, er soll Konrad einen Denkzettel verpassen, nicht das … das, was passiert ist. Und als Sophia ihn angegriffen hat …«
Er ließ es unausgesprochen. Isenhart begriff. Henning hatte also nicht veranlasst, ihn auf diese perfide Art zu bestrafen.
»Ich habe Sophias Wunden mit Rosenwasser gesäubert und mit gewichsten Fäden vernäht«, fügte Henning hinzu.
Isenhart war erleichtert, und das heiße Blut, das ihm durch den Körper jagte, seitdem Henning am Kreuzgitter aufgetaucht war, verlor an Temperatur. Das Rauschen in den Ohren ebbte auf ein erträgliches Maß ab.
Mit etwas Glück hatte von der Braake mit seinem chirurgischen Geschick, das sein Vater ihn gelehrt hatte, der Entstellung noch rechtzeitig etwas entgegengesetzt. Isenhart ertappte sich dabei, wie er für den Bruchteil eines Augenblicks Dank empfand. »Hast Du viele geöffnet?«
Henning nickte.
»Bei lebendigem Leib?«
Henning deutete ein Kopfschütteln an: »Natürlich nicht, ich empfinde keine Freude am Quälen, das müsstest du wissen.«
»Ich dachte, ich wüsste viel über dich.«
»Das tust du auch. Weil du dich selbst kennst.« Hennings Blick wurde weich, seine Augen suchten den
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