Isenhart
behandelt als heilt. Das ist die Kenntnis des Fehlers. O ja, ich habe viele geöffnet und seziert.«
»Gottes Kinder«, hörten sie Konrad sagen.
»Der Aderlass«, fuhr Henning unbeirrt fort, »schon dein Vater ahnte, dass er gefährlich ist und die geschwächten Patienten dem Tode nahebringt. Und man wird das noch jahrhundertelang praktizieren, wenn niemand die Wahrheit ans Licht bringt.« Er hatte sich in Rage geredet, sein Atem war schneller und flacher geworden: »Stell dir … stell dir vor, was wir beide zusammen bewirken könnten, Isenhart. Spürst du das nicht?«
Henning hatte die Finger um das Kreuzgitter gelegt, er ballte die Fäuste um das Metall, seine Augen fixierten Isenhart. »Gemeinsam würden wir uns in den Besitz von Erkenntnissen bringen, die wir alleine nicht erlangen könnten.«
Eine Symbiose zum Nutzen aller, von nichts Geringerem sprach Henning.
Körper und Geist, hatte Walter sie gelehrt, sind einander ein Verlies. Der Geist zwingt den Körper unter die Knute von Vernunft, Glaube und Moral, und der Körper bereitet dem Geist seine Endlichkeit. »Wir wären das, was wir vorher waren – zwei Inseln ohne jede Verbindung zur Welt«, antwortete Isenhart mit bitterer Überzeugung. »Das Wissen, das du angesammelt hast, übersteigt das meines Vaters vermutlich bereits. Aber es sind wertlose Erkenntnisse, Henning.«
Henning kehrte zu einer strammen Körperhaltung zurück, die Selbstbewusstsein verriet. In seiner Stimme schwang Empörung mit: »Wir haben mit unserem Wissen den Raum erobert! Wir sind geflogen, wir haben die Welt der Vögel geteilt. Nichts davon ist nutzlos oder vergebens. Es ist Fortschritt.«
Isenhart nickte: »Und wertlos. Eine Wahrheit, die man nicht verbreiten darf, das ist wie … ein Acker, den man besitzt, aber nicht bestellen darf. Beides bleibt ohne Frucht.«
Henning kniff die Augen ein wenig zusammen. Isenhart hatte diese Eigenart nicht vergessen, die immer dann zutage trat, wenn der junge von der Braake sich konzentrierte.
»Ganz gleich«, fuhr Isenhart fort, »ob man von der Quelle gekostet hat oder nicht, es macht nur einen Unterschied, wenn man davon berichten kann. Der Anfang des Heils ist die Kenntnis des Fehlers – Epikur. Du hast es selbst gesagt. Wenn du die Kenntnis des Fehlers nicht verbreiten kannst, wirst du das tausendfache Begehen des Fehlers nicht verhindern.«
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Henning, »wenn wir unsere Erkenntnisse in die Waagschale werfen würden und noch all die Erkenntnisse des Basars des Wissens dazu, wir könnten in bestimmten Bereichen, in der Medizin, der Astronomie und Philosophie, ein ganzes Jahrhundert überspringen. Hier und da vielleicht weniger, an anderer Stelle vielleicht gar das Anderthalbfache!«
Der Glanz war in seine Augen zurückgekehrt, seine Finger umklammerten das Metall des Kreuzgitters mit leidenschaftlicher Intensität.
»Aber man würde uns nicht lassen.«
»Die Zeit wird kommen«, beharrte Henning von der Braake.
»In ein, zwei Jahrhunderten, sicher. Wenn die Kurie dem eigenständigen Denken, dem freien Geist, keinen Einhalt mehr gebieten kann. Aber du wirst dann tot sein, Henning. Ein vergessener Niemand.«
Hennings Finger, die das Kreuzgitter nach wie vor umklammert hatten, lösten sich, der Glanz in seinen Augen trübte ein.
»Du kannst nichts ausrichten mit deinen Erkenntnissen, du wirst nichts ändern, Henning. Man wird dich einfach vergessen. Es wird so sein, als hättest du nie existiert.«
Henning ließ die Hände sinken. »Wir müssen das nicht hinnehmen«, warf er ein.
Doch Isenhart kam nicht näher, er blieb nach wie vor in der Mitte der Zelle stehen. Obwohl durch die Felswände des Verlieses begrenzt, fielen die Meilen zwischen sie. Isenhart musste kein Wort verlieren, seine Ablehnung war unübersehbar. Er würde nicht mit ihm, einem Mörder, paktieren.
»Wenn ich könnte, wenn ich die Macht dazu hätte, ich würde dir Anna von Laurin zum Geschenk machen.«
»Nimm ihren Namen nicht in den Mund, du Ratte!«, brüllte Konrad aus seiner Zelle.
Henning zuckte nicht zusammen, er verschwendete nicht einmal einen Blick, der nach wie vor Isenhart galt. »Aber das kann ich nicht«, fuhr er daher fort, »deshalb habe ich mich um Sophia gekümmert. Und egal, was passiert, sie steht unter meinem Schutz.«
Das Bedauern, das in seinen Worten mitschwang, schien Isenhart echt. Henning von der Braake empfand Reue wegen des Mordes an Anna. Jedoch nicht um ihretwillen, sondern weil er annahm,
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