Isenhart
einem Hieb seines scharfen Schnabels.
Konrad zog seine am Daumen blutende Hand mit respektvoller Miene zurück, und Sigimund war offenbar unentschieden, ob er mit dem verletzten Raben, den er in den Händen hielt, böse oder zufrieden sein sollte.
»Er hat sich den Flügel gebrochen«, diagnostizierte Konrad.
Marie kam aus der Hütte, an dessen Wand ein teilnahmsloser Vater Hieronymus lehnte und sich von den Sonnenstrahlen kitzeln ließ. Den Ausdruck eines glücklichen Idioten auf dem Gesicht.
Marie trug einen Säugling im Leinenbündel, behutsam presste sie den Zweitgeborenen an ihre Brust.
»Man muss dem verletzten Vogel den Hals umdrehen«, riet Konrad seinem Sohn.
Sigimund schaute auf das gefiederte Bündel in seinen kleinen Händen. Der Rabe war noch jung. »Isenhart sagt, man kann am Flügel eine Schiene machen.«
Konrad seufzte und versuchte zu verbergen, dass der Seufzer einem tief empfundenen Respekt entsprang. »Nun ja«, relativierte er, »Isenhart wollte dich vielleicht trösten und hat deshalb …«
»Isenhart lügt nicht«, unterbrach Sigimund. Von Stirn zu Nasenwurzel zog sich dabei eine Falte des Ärgers in die noch junge Haut.
»Na, wenn Isenhart das sagt«, lenkte Konrad ein und erhob sich von den Schienbein- und Armschützern, denen er den Dreck abgekratzt und – gebürstet hatte. Er berührte sanft die Schulter seines Sohnes, die er in Grautönen wahrnahm.
Die Welt der Farben hatte sich ihm durch die versuchte Blendung verschlossen. Nie mehr würde er sie betreten können. Über dem rechten Auge trug er ein Stück Tuch. Das andere Auge war zwar in Mitleidenschaft gezogen worden, präsentierte ihm seine Umgebung aber wenigstens als farblose Fläche. Konrad hatte damit zu leben gelernt und stand mittlerweile der Wachmannschaft der Stadt Spira vor.
»Mit einem guten Flügel kann er wieder fliegen«, sagte Sigimund. Seinen besorgten Blick hielt er auf den versehrten Jungraben gesenkt.
Konrad holte tief Luft. Es sah so aus, als müsste er bei Gelegenheit ein Wörtchen mit Isenhart reden und ihm nahelegen, seine Flausen vom Fliegen ausnahmsweise auch mal bei Lilian zu verbreiten.
Diese lief ihnen von rechts über den Weg. Sie war fünfeinhalb, ein Rotschopf mit Sommersprossen um die Nase, der die Arme ausgebreitet hatte. »Ich kann fliegen«, gluckste sie.
Konrad seufzte. Er hatte es schon getan. Und statt des Grimms, den er empfinden wollte, verzogen seine Lippen sich zu einem Lächeln. Auch Sigimund, der gerade aufschaute und Notiz davon nahm, grinste. Konrad hob ihn hoch und setzte sich seinen Sohn auf die Schultern.
»Du hast einen verrückten Onkel«, sagte Konrad.
Seine Worte waren frei von Tadel und angefüllt mit Stolz.
Sophia saß am Fluss, den Blick auf die unvorhersehbaren Schlieren gerichtet, die die Strömung des Rheins an der Oberfläche hervorrief.
Isenhart hatte sich ihr genähert, ohne von seiner Gemahlin bemerkt worden zu sein. Der Wind presste das dünne Leinen vorteilhaft an ihren Körper. Unter dem Leinen erahnte Isenhart den Bogen der Wirbelsäule, über den seine Hände so oft gefahren waren.
Wortlos nahm er neben ihr Platz. Isenhart wusste um den genauen Verlauf jeder Narbe, die seine Frau in den Augen anderer trotz aller Bemühungen Hennings von der Braake entstellt hatte. Er hatte es damals, als Konrad III . von Scharfenberg sie zu freien Menschen erklärt hatte, nicht für möglich gehalten, über diese Verstümmelungen hinwegsehen zu können. Doch es fiel ihm leicht,viel leichter als Konrad, der drei Viehtreiber, die bei Sophias Anblick zu grinsen und tuscheln begonnen hatten, aufs Fürchterlichste verprügelt hatte.
Isenhart begriff, warum. Und Sophia auch.
Die Anmut und Grazie ihres Wesens, sie hatte Simon von Hainfeld nicht verwüsten können. Und ihnen, verborgen hinter dem vernarbten Antlitz, galt Isenharts ganze Zuneigung.
Um ihn war es nicht unbedingt besser bestellt, stellte Sophia in Gedanken fest. Sein linkes Ohr bestand lediglich noch aus einem Fünftel seiner Substanz und bildete den oberen Bogen der Ohrmuschel, die nicht mehr war. Die rechte Schulter eiterte von Zeit zu Zeit immer noch.
Dessen ungeachtet ging Isenhart unermüdlich seinen Gedanken und Forschungen nach – mit Ausnahme der Fliegerei, die er nach wie vor mit Henning in Verbindung brachte. Er tüftelte, zeichnete und baute, und wenn sie ihm dabei zusah, spürte Sophia ein Kribbeln im Bauch, das ihr kein Anblick sonst zu verschaffen in der Lage war.
In solchen Augenblicken
Weitere Kostenlose Bücher