Isenhart
jetzt.
Sie standen einander gegenüber. Kampfbereit. Der Regen lief ihnen durch die Haare, die eng am Kopf klebten, über den Bart und das Antlitz. Die Halbbrüder waren durchnässt bis auf die Haut und taxierten einander.
»Wir stehen außerhalb unserer Zeit, Isenhart«, beharrte Henning und fügte hinzu, »ich will dich nicht töten.«
Isenhart ließ den Streitflegel sinken, er atmete tief durch, der Geruch von nassem Gras hing über der Wiese.
Entgegen seinen Worten sprang Henning vor und ließ das Schwert zum Herzen seines Halbbruders vorschnellen.
Sophia erstarrte im Augenblick dieser Attacke, die ihren Mann unvorbereitet treffen und ihn töten würde. Dies war der Grund, weshalb sie von ihm nie als von einem älteren Mann geträumt hatte.
Einige meinten später, Isenhart sei auf der Stelle tot gewesen, andere wollten gesehen haben, wie er sich noch für einige Augenblicke im Gras gewälzt hatte, bevor die Reglosigkeit von seinem Körper Besitz ergriff.
Auf jeden Fall stand er nicht wieder auf. Sophia brüllte aus Leibeskräften, als sie auf ihn zulief. Sie ließ sich neben den Toten fallen und wiegte ihn wimmernd in ihren Armen.
»O Herrgott, nein!«
Konrad stapfte herüber, fassungslos und betäubt.
Jeder Moment ist voll der Möglichkeit.
Und Isenharts Tod war nur eine von unzähligen Möglichkeiten, auf die die Zukunft sich noch nicht festgelegt hatte, als Henning zustieß und zu seiner Verblüffung in Isenhart auf keinen überraschten, sondern einen vorbereiteten Gegner traf. Aus der Ausweichbewegung schöpfte Isenhart den Schwung, mit dem er den Streitflegel ein kraftvolles Halbrund beschreiben ließ, um die Zukunft festzulegen.
Auf Hennings Gesicht zeichnete sich die Erkenntnis über den Fehler ab, den er soeben beging, doch befand er sich noch in der Vorwärtsbewegung, als er die Eisenkugel von links auf sich zurauschen sah – und war daher nicht in der Lage, seine ungeschützte Flanke wirksam zu decken.
Er krümmte den Ellbogen des linken Schlagarmes nach oben, doch die Eisenkugel des Streitflegels zertrümmerte das Armgelenk und wurde daraufhin ein wenig abgelenkt, weshalb sie ihn nichtknapp verfehlte, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte, sondern gebändigt durch die kurze Kette einschwenkte und mit ihrem Aufprall Hennings Hinterkopf zertrümmerte.
Der ganze Mann erstarrte, ein Zittern durchlief ihn, ganz sachte. Ihre Blicke fanden sich. Hennings Fassungslosigkeit spiegelte sich in seinen vor Schreck und Schock geweiteten Augen. Schmerz empfand er bereits nicht mehr. Er nahm noch das unendliche Bedauern in Isenharts Augen wahr, bevor er ins Gras stürzte, wobei seine Arme ihn nicht mehr abfingen.
Isenhart kniete sich neben seinen Halbbruder. »Wir sind in dieser Zeit gefangen, ob wir wollen oder nicht«, sagte er.
»Natürlich«, flüsterte Henning, dem dort, wo Isenhart ihn am Hinterkopf hielt, ein Teil des Gehirns aus dem Schädel trat, »wer seid Ihr?«
Kurz senkte Isenhart den Blick, um sein Erschrecken zu verbergen. Er musste Henning mit dem Streitflegel an einer Stelle am Kopf verletzt haben, die die Erinnerungen der Menschen aufbewahrte.
»Ich bin Euer Bruder«, antwortete Isenhart schließlich und nahm die suchenden Finger Hennings in seine freie Hand. Dessen skeptische, ängstliche Miene wich einer gewissen Vertrautheit und Sicherheit. Doch beides nicht ohne Vorsicht. »Mein Bruder?«
»Ja«, versicherte Isenhart. Er sah auf. Sophia und Konrad näherten sich.
Mit einem Schlag, mit einem Akt roher Gewalt hatte er Henning von der Braake um das beraubt, was ihn so einzigartig gemacht hatte. Isenhart hatte ihm unwillentlich das Schlimmste angetan, was man einem Menschen antun konnte: Er hatte Hennings Identität vernichtet.
Nun blickte er zu ihm herab. In den Augen des Sterbenden lag kindliches Vertrauen. »Mein Bruder«, flüsterte er, und Isenhart bestätigte es mit einem Nicken, »ich bin froh, mich in Eurer Obhut zu wissen.«
Hennings Rechte umklammerte seine Hand, und er erwiderte den Druck der Finger. Isenhart schluckte. Er wollte keinen Schmerz empfinden, sondern Genugtuung. Nicht Verlust, sondern den Triumpfh. Doch alles, was er empfand, war eine Welle, die Henning mit seinen Worten ausgelöst hatte, die ihn durchströmte und schließlich an seinen Augen brach, als Henning seinen letzten Atemzug tat.
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42.
Anno Domini 1203
s ist besser, du gibst ihn mir«, sagte Konrad. Er reichte seinem Sohn Sigimund die Hand, aber der schwarze Vogel strafte ihn mit
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