Isenhart
außergewöhnlich. Und wenn Walther ihn lobte, blickte Isenhart betreten zu Boden. Isenhart strebte nicht nach Anerkennung, sondern nach Wissen. Sein ganzer Charakter war nicht auf Zurschaustellung ausgerichtet. Es ging ihm lediglich darum, das Wesen der Dinge zu erfassen, eine Erklärung zu finden.
Walther von Ascisberg zweifelte daher nicht daran, dass Isenhart ihn zu seinem Geburtsort geführt hatte, um ihn zu verblüffen.
»1600 Fuß«, schätzte von Ascisberg.
»Es sind 1500, ich habe sie abgeschritten«, erwiderte Isenhart sachlich.
Er kramte zwei Holzstäbe aus dem Leinensack hervor. Der eine war knapp zwei Fuß lang, der andere – mit Kerben versehen – gut fünf Fuß. Den reichte er seinem Lehrmeister. »Stützt den hier direkt unter das Auge und deutet mit dem anderen Ende auf das, was Ihr vermessen wollt«, wies Isenhart ihn an.
Diese Rolle war für Walther neu. Aber er erhob nicht das Wort, sondern tat wie ihm geheißen.
Isenhart reichte ihm den zweiten Stab. »Das ist der Stock, den ich ›Läufer‹ genannt habe«, merkte er an, »haltet ihn senkrecht zum Grundstab.«
Walther von Ascisberg legte den Läufer im Winkel von neunzig Grad an den Grundstab an.
»Führt den Läufer zu Euch hin oder von Euch weg, bis das untere Ende mit dem unteren Ende des Ascisbergs übereinstimmt. Und das obere Ende des Läufers ebenso.«
Walther von Ascisberg führte den Läufer auf sich zu, bis sich Boden und Spitze des Berges mit dem Läuferholz in Deckung befanden. »Und weiter?«, fragte er.
»Die Höhe des Ascisbergs ergibt sich, wenn Ihr die Entfernung des Berges mit der Länge des Läufers multipliziert. Ich habe den Läufer auf zwei Fuß konzipiert.«
»Also das Produkt aus 1500 Fuß Entfernung und zwei Fuß Läuferlänge«, resümierte Walter von Ascisberg, »das ergibt 3000 Fuß.«
»Dividiert durch die Distanz zwischen Eurem Auge und dem Läufer.«
»Was einem Drittel Fuß entsprechen dürfte«, schätzte Walther.
Isenhart nickte freudig.
»Dann ergeben sich knapp 300 Fuß für die Höhe.«
»Ja, der Ascisberg ist fast 300 Fuß hoch«, bestätigte Isenhart.
Walther senkte Grundstab und Läufer. Er musterte Isenhart, der ohne jede Überheblichkeit lächelte. Eine Menge Gedanken schossen von Ascisberg durch den Kopf. Vor allem aber jener, der ihn mit tiefer Befriedigung erfüllte. Dies war das Ziel, auf das so viele Lehrmeister vergeblich hofften: Dass einer ihrer Schüler das Handwerkszeug, das man ihm mit auf den Weg gab, auf neue Weise nutzte und so seinen Lehrer übertraf.
»Wie bist du darauf gekommen?«
»Eine Komplementärformel«, erwiderte Isenhart, »ich habe die Höhe vorausgesetzt und die Entfernung als unbekannt eingestuft. Sie kann bestimmt werden, wenn man die Höhe mit der Entfernung vom Auge zum Läufer multipliziert und durch die Länge des Läufers teilt. Das Ergebnis waren 1500 Fuß. Die konnte ich durch Abmessen beweisen. Und dann musste ich die Formel nur noch auf die Höhe ausrichten.«
Walther von Ascisberg konnte seinen Gedanken kaum folgen.
Mit einem Mal versteifte Isenhart sich etwas, sein Blick ging an ihm vorbei. Von Ascisberg schaute sich über die Schulter und entdeckte drei Gestalten auf Pferden, die sich ihnen näherten.
Isenharts Herz krampfte sich vor Freude zusammen. Es waren Sigimund und Konrad. Und ein Mädchen namens Marie.
Als Walther von Ascisberg und Sigimund von Laurin sich umarmten, ließen auch Konrad und Isenhart jede übliche Zurückhaltung zwischen Knecht und Herrn fahren.
Sie alle ahnten noch nichts von den Ereignissen des 17. Dezembers. Und wäre ihnen gegenwärtig gewesen, wie ihr Leben aus den Fugen gerissen werden würde, wie knapp ihre gemeinsame Zeit bemessen war, sie hätten in vollem Galopp die Flucht ergriffen.
Der 17. Dezember 1189 war ein Mittwoch und brachte dichten Schneefall mit sich. Die Burg Laurin und die umliegende Landschaft wurden in ein frostiges Weiß getaucht. Es wäre unmöglich gewesen, Ida an diesem Morgen zu begraben, weil die Erde bis zu zwei Fuß tief gefroren war.
Eine nervöse Mauleselin – Henrick ging hinten an ihr vorbei – hatte ausgetreten und sie seitlich am Kopf getroffen. Idas Ohr, dasnur noch einen breiigen Klumpen bildete, markierte die Stelle, an der ihr Schädel die Fraktur erlitten hatte.
Walther von Ascisberg und Vater Hieronymus konnten nichts mehr ausrichten, es war eine Sache von Stunden, und als Isenhart ihr in die Augen blickte, war ihm klar, dass sie es auch wusste.
Chlodio
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