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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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helfen.
    Giselbert blickte zu ihr auf. »Mich zu berühren bringt Unglück«, stellte er fest, »ich bin ein Carnifex.«
    Tausende von Male hatte er diese Worte schon ausgesprochen, Tausende Male waren die Hände der anderen zurückgezuckt, hatten sie plötzlich Wichtiges und Eiliges zu erledigen – allesamt Angelegenheiten von einer Dringlichkeit, die keinen Aufschub duldete – und stahlen sich davon.
    »Ich weiß«, erwiderte Sophia unbekümmert. Sie sah Giselberts Zögern und fügte hinzu: »Das Unglück, das auf mich wartet, geschieht nicht durch dich, Giselbert.«
    Als sie seinen Namen aussprach, war ihre Stimme frei von jenem Unbehagen, das stets bei all den anderen mitschwang. Da er immernoch zögerte, ergriff sie einfach die Initiative und seine Hand. Diese Berührung, die Wärme der dünnen Finger, erschien Giselbert als das Schönste, was er je empfunden hatte.
    Auch, nachdem er wieder auf die Beine gekommen war, hielt Sophia seine Hand noch für die Dauer einiger Schritte. Sie grinste schelmisch. »Trifft mich ein Blitz? Ein herabfallender Ast?«
    Nein, nichts dergleichen geschah, wie Giselbert verschwommen wahrnahm, denn diese kleine Hand zu halten, die bewusste und furchtlose Berührung durch einen anderen Menschen, ließ alle anderen Gedanken weit in den Hintergrund treten. Er widmete sich ausschließlich diesem Gefühl, er wollte jeden Augenblick davon auskosten, weil Giselbert ahnte, wie viele Jahre er davon würde zehren müssen.
    Sophia kam wieder, in unregelmäßigen Abständen, manchmal des Nachts, dann zündete er ein Feuer an, sie starrten in die Flammen und sprachen über dieses oder jenes oder schwiegen einfach. Giselbert wagte nicht, sich zu erkundigen, was der Grund ihrer Besuche war, denn er fürchtete, damit könne er diese Bande, die sich zart zwischen ihnen geknüpft hatten, wie mit einer groben, unüberlegten Geste zerstören.
    Mehrmals schon wollte er sie bitten, noch einmal seine Hand zu halten, aber stets verschob er es auf das nächste Treffen. Als Giselbert es schließlich nicht mehr aushielt und – ihrem Blick ausweichend – seinen Wunsch aussprach, fragte sie nach dem Grund.
    »Weil mich seit zwanzig Jahren niemand mehr berührt hat«, sagte er leise, fast schamvoll.
    Sophias Augen wurden feucht. Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand in die ihre. Nach einer Weile, die sie stumm nebeneinander verbracht hatten, entzog Giselbert sie der Fürstentochter wieder. Er wollte es nicht übertreiben und musste auch nichts erklären, denn Sophia nahm ihren ursprünglichen Platz wieder ein. In diesem Moment kam Giselbert ein ungeheuerlicher Gedanke.
    Sophia würde bald zwölf Jahre alt werden. Andere Mädchen wurden mit dreizehn oder vierzehn verheiratet, dann bekamen sie Kinder, das war der Lauf der Dinge. Giselbert hatte für sich beschlossen, keine Kinder in die Welt zu setzen, denn ihnen blühtederselbe dornige Weg, den er hatte beschreiten müssen. Dies war eine schöne Erklärung, wie der Carnifex fand, aber er unterschlug dabei, dass der wahre Grund seiner Enthaltsamkeit weniger dieser hehre Gedanke war als vielmehr der Mangel an Gelegenheit. Kein Weib fand sich, das freiwillig die Tristesse seines Alltags auf sich genommen hätte.
    Bei Sophia lagen die Dinge aber anscheinend anders. Hatte sie nicht gesagt, ihr würde durch ihn kein Unglück geschehen? Ja, was dann? Wenn kein Unglück, dann vielleicht Glück? Das Glück des Lebens sogar?
    Sein Herz schlug immer höher bei diesen Gedanken, ihm war, als könne Sophia, die verträumt in die Flammen blickte, es unmöglich überhören. Doch sie rührte sich nicht.
    Sie würden fliehen müssen, überlegte der Carnifex. Weit weg und …
    »Giselbert«, sagte Sophia leise, »träumst du manchmal von Sachen, die später passieren?« Ruhig und gefasst fixierte sie ihn dabei mit ihren grünen Augen.
    »Nein«, antwortete er, und als er die Ernüchterung in Sophias Gesicht las, wusste er nicht, was er falsch gemacht hatte. Er hatte eben keine Träume von künftigen Ereignissen, die sich später bewahrheiteten.
    Das war vor fünf Tagen gewesen. Seitdem hatte Sophia sich nicht mehr bei ihm blicken lassen. Allmählich hatte ihn eine Unruhe erfasst, in der sich ehrliche Sorge und aus der möglichen Zurückweisung entsprungene Wut die Waage hielten.
    Und nun fand er sich auf der Lichtung neben der frischen Grube. Sein Rücken und seine Arme schmerzten. Es war eine mörderische Arbeit gewesen, sie bei diesen winterlichen Temperaturen

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