Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
Vom Netzwerk:
zu tragen, damit die Leute Abstand wahrten. In der Rechten hielt er ein schmales Rohr aus Holz, zwei Finger im Durchmesser.
    Giselbert hasste seinen Vater für eine Menge Dinge, auch der Umstand, dass dieser sein Erdenleben längst hinter sich hatte, konnte ihn nicht besänftigen. Jedenfalls nicht, wenn er sich in seinen Zorn hineinsteigerte, was keine Seltenheit war.
    Ein Scharfrichter wurde gut entlohnt und stand unter dem Freimannsschutz, niemand durfte sich an ihm für das Richten einer Person rächen. Und damit erschöpften sich auch schon die Vorteile, die ein Carnifex genoss. Der Rest gestaltete sich eher traurig.
    Das Schlimmste war die Einsamkeit. Kaum jemand wagte, überhaupt mit ihm zu sprechen. Wurde er krank, musste er sich selbst heilen. Niemand schenkte ihm Mitleid, daher blieb ihm nur, sich selbst zu bemitleiden, und darin hatte er eine regelrechte Kunst entwickelt. Was hatte er schon für Tränen über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und der Mühsal seines Lebens im Besonderen vergossen!
    Es ging so weit, dass er sich dem Vieh anvertraute und den Tieren sein Leid klagte. Die Ziegen erwiesen sich als sehr geduldig. Aufmerksam verfolgten sie seine Reden, beim Gestikulieren musste er sich allerdings zurücknehmen, um seine treue Zuhörerschaft nicht zu verjagen.
    So weit war es gekommen. Giselbert, der Scharfrichter von Kaisers Gnaden, sprach mit den Ziegen!
    Er hielt auf der Lichtung Ausschau nach dem Delinquenten und schüttelte den Kopf über sich selbst. Und all das wegen seines Vaters, einem Abdecker, dem das Geld knapp geworden war und der sich deswegen nicht lange dazu hatte überreden lassen müssen, einem Mörder öffentlich den Kopf abzuschlagen. Drei Hiebe genügten ihm, die Schaulustigen quittierten die Treffer mit Gejohle. Anschließend gab Giselberts Vater die Abdeckerarbeit, die ihm die Haut der Hände für immer ruiniert hatte, auf und wurde Henker.
    Seine Braut lief ihm davon, in einem Hurenhaus traf er auf Isabel, die blinde Isabel, mit der jeder tat, wonach ihm gerade der Sinn stand. Giselberts Vater nahm sie zur Frau. Sie gebar ihm Kinder, insgesamt neun an der Zahl, von denen vier überlebten. Zwei Knaben und zwei Mädchen.
    Für die Kinder eines Carnifexes gab es keine Zukunft. Weder durften sie einen ehrlichen Beruf erlernen noch innerhalb ihres Standes heiraten. Das Handwerk des Vaters war ein Stigma, dem sie nicht entrinnen konnten. Ihr Vieh durfte nicht zusammen mit dem der Bauern weiden. Der Besuch von Badehäusern war ihnen verboten, zu Hochzeiten wurden sie nicht geladen. In der Kirche gab es weit hinten in einer Ecke eine Bank, die für sie reserviert war. Und niemand, wirklich niemand, fand sich, der darauf Platz genommen hätte.
    Den Töchtern standen nur zwei Wege offen: Heilige oder Hure. Nonnen wurden alle beide nicht, dazu waren sie zu dumm. Deshalb verdingten sie sich als Dirnen, und als der Vater davon erfuhr, warf er sie aus dem Haus.
    Um Giselbert und seinen Bruder war es kaum besser bestellt. Niemand hätte sie angestellt oder Handel mit ihnen getrieben, daher blieben auch ihnen nur zwei Wege: die Profession des Vaterszu übernehmen oder sich einer Räuberbande anzuschließen. Der Bruder begann damit, Händler zu überfallen.
    Giselbert fehlte dazu der Mut. Mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern trat er in die Fußstapfen seines Vaters, eine Körperhaltung, die er bis zum heutigen Tage beibehalten sollte.
    Sein Alltag war von Routine betäubt. Die immer gleichen Erledigungen, die immer gleichen Handgriffe und die immer gleiche Einsamkeit am Abend, bis … ja, bis eines Abends ein Mädchen mit abstehenden roten Haaren in der Tür erschien, die Haut schimmernd bleich wie Elfenbein: Sophia.
    Sie verzog ihren Mund und zeigte ihm zwei Reihen makellos schimmernder Zähne.
    Das bleiche Mädchen war vorbeigekommen, um die Bucheckern zu holen. Giselbert sagte, sie seien zu schwer für eine so feine und junge Dame.
    Sophia lachte ihn an. »Feine, junge Dame«, wiederholte sie und machte ein Gesicht, als würde sie jeden dieser Begriffe einzeln abschmecken, »so hat mich noch niemand genannt.«
    Er schleppte die Bucheckern in Richtung Burg, eigentlich erledigte das dieser unheimliche Junge, aber wie man hörte, war er sehr oft Pilze sammeln.
    An einer Wurzel strauchelte Giselbert und stürzte auf das weiche Moos. Er wollte sich schon aufrappeln, als er nur wenige Fingerbreit vor sich die schmale Hand des Mädchens sah, bereit, ihm auf die Beine zu

Weitere Kostenlose Bücher