Isis
Oder nach verlorenen Freunden.
Andere sorgen sich um die Gesundheit ihrer Eltern und Kinder.«
»Also kannst du auch in die Vergangenheit blicken?« Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Unablässig fuhren seine Hände über den Bauch.
»Manchmal«, sagte Meret. »Ich kann es dir gar nicht so genau sagen. Die Bilder kommen und gehen, ohne dass ich irgendeinen Einfluss darauf hätte.«
»Und bei dir selbst?«, fragte er nach. »Was ist mit deiner eigenen Zukunft?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen«, sagte sie. »Aber ich kann meinem Schicksal ebenso wenig entgehen wie du.«
Er warf ihr einen seltsamen Blick zu und machte sich auf den Weg zu seinen Ställen.
»Wir müssen eine andere Lösung finden«, sagte er, als er nach Hause kam und seine Schwelle noch immer von Wartenden belagert fand. »Wenn du so weitermachst, wirst du bald erschöpft sein oder sogar krank werden. Außerdem habe ich keine Lust, mir erst einen Weg durch Menschenleiber bahnen zu müssen, bevor ich mein eigenes Haus betreten kann.«
Er wies seine Diener an, den Schuppen hinter dem Haus herzurichten, in dem bislang nur Gerätschaften untergebracht gewesen waren. Ein schmaler Pfad führte vom Eingang des Gartens direkt dorthin. Wer warten musste, konnte dies nun im Baumschatten tun. Meret folgte schließlich sogar seiner Empfehlung, nur vormittags Ratsuchende zu empfangen, und zu ihrer Überraschung hielten sich die Leute an diese Regel.
Im Gleichmaß der Tage verstrichen Wochen, und schließlich musste Meret feststellen, dass bereits Monde vergangen waren, ohne dass sie ihrem eigentlichen Ziel auch nur einen Schritt näher gekommen wäre. Pacher war zuvorkommend, allerdings nur, solange sie nicht versuchte, das Gespräch auf Ruza zu bringen. Dann verschloss sich seine Miene und die Stimme wurde gepresst.
»Meine Schwester und ich haben uns nie verstanden«, war alles, was ihm zu entlocken war. »Zu unterschiedliche Charaktere, nehme ich an. Ich bedaure, dass Ruza früh sterben musste, aber wenn sie noch an Leben wäre, würde ich alles tun, um ihr aus dem Weg zu gehen.« Wohlgefällig ruhten seine Augen auf Meret. »In deiner Gegenwart dagegen fühle ich mich wohl. Mein Haus lebt erst richtig, seit du hier bist.«
Ächzend erhob er sich aus seinem geschnitzten Sessel und kam zu ihr herüber. In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, sie manchmal am Arm oder der Schulter zu berühren, auf freundliche, eher väterliche Art, aber Meret zuckte dennoch jedes Mal zusammen.
»Was hast du?«, fragte er gekränkt, sobald er auch diesmal ihren Widerstand spürte, und zog sich wieder zurück. »Darf dein alter Onkel nicht ein bisschen nett zu seiner schönen Nichte sein?«
Ich bin aber nicht deine Nichte!, dachte Meret. Denn Ruza war nicht meine leibliche Mutter. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob Pacher etwas davon wusste. Aber wie sollte sie es anstellen, ihn zum Reden zu bringen? Und dann gab es noch eine leise Furcht in ihr: Wie würde Pacher sich ihr gegenüber verhalten, sobald klar war, dass sie nicht verwandt sein konnten?
»Ich bin müde.« Sie schenkte ihm ein unverbindliches Lächeln. »Mein Bett wartet schon auf mich.«
»Und süße Träume von schönen jungen Männern? Ist es das, was du meiner Gegenwart vorziehst?«
Sie spürte, dass sie errötete. Denn in ihren Träumen gab es sehr wohl einen jungen Mann, der immer wiederkehrte - jenen Steinmetz Khay, der behauptet hatte sie zu kennen.
Sein Lachen, seine irritierende körperliche Präsenz hatte sie bis heute nicht vergessen können. Manchmal gab es unter den Ratsuchenden jemanden, dessen Stimme oder Statur sie an ihn erinnerte, dann schlug ihr Herz ein paar Augenblicke schneller, bevor es zu seinem gewohnten Rhythmus zurückfand.
Jetzt murmelte sie etwas und beeilte sich, auf ihr Zimmer zu kommen.
Am nächsten Nachmittag erhielt sie überraschenden Besuch, den die Dienerin zu dieser Tageszeit nicht einlassen wollte.
»Du?«, sagte Meret überrascht, als sie Sanna an der Pforte warten sah. »Aber du hast doch die Tempelinsel seit Jahren nicht verlassen!«
»Jetzt schien es mir wichtig zu kommen.« Sannas Blick glitt prüfend über Merets Gesicht. »Wir müssen reden, Meret!«
Als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, führte die Seherin Sanna ins Haus. Die Priesterin musterte all den Prunk ebenso unbeeindruckt wie das Zuckerwerk und den schweren Wein, die eine Dienerin auf Merets Bitte hin servierte.
»Ein Becher Wasser und ein Stück
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