Isis
Ältere ihm eine Kopfnuss verpasst. Es ging Anu nichts an, dass auch er Neshet vermisste. Er fühlte sich sicherer, wenn er nach außen hin möglichst gleichgültig tat.
»Wir gehen zum Wasser, aber wir lassen die jungen Krokodile in Ruhe«, schlug Isis vor, um einem drohenden Streit vorzubeugen. Seitdem Basa in ihre Nähe gezogen war, sahen sie die beiden nahezu täglich. Allerdings hatte das bislang keiner den Erwachsenen verraten. Es war ein süßes, verlockendes Gefühl, dieses Geheimnis miteinander zu teilen.
»Es ist zu gefährlich, weil die großen Krokodile immer in der Nähe sind. Mama sagt außerdem, dass Sobek sonst böse wird. Und man darf keinen Gott zornig machen!«
»Man darf nicht, man soll nicht, man hat nicht ...«, äffte Khay sie nach. »Ihr beiden seid vielleicht langweilig! Fragt ihr immer vorher artig, ob alles erlaubt ist? Ich denke nicht daran!«
Er ließ sein entwaffnendes Lachen hören, ein Junge, eckig und unstet wie eine Heuschrecke. Seine schrägen Augen blitzten vor Leben, und sein knochiger Körper, der irgendwie von den Schultern herabzuhängen schien, war mit zahllosen Blessuren bedeckt. Immer und überall war Khay in Bewegung. Deshalb fiel es ihm wahrscheinlich auch so schwer, während der schier endlosen Unterrichtsstunden im Haus des Lebens still zu sitzen.
Er hasste die Schule in dem Maße, wie sein Bruder Anu sie liebte. »Kammer des Unterrichts« lautete ihr offizieller Name, den Khay sofort zu »Kammer des Schreckens« verballhornt hatte. Es langweilte ihn, immergleiche Zeichen auf Tonscherben abzukritzeln, die wenig später ja doch korrigiert wurden, weil sie mal wieder nicht präzise genug ausgefallen waren. Und die angeblichen Klassiker, Lebensweisheiten und einfache Dichtung, mit denen die älteren Kinder konfrontiert wurden, ödeten ihn genauso an. Zeichnen dagegen liebte er, aber nur, wenn er seinen spontanen Einfälle folgen konnte und nicht den Anordnungen der Lehrer.
Isis streckte ihm die Zunge raus und lief los.
Es war nicht einfach für sie, sich gegen zwei Jungen zu behaupten, obwohl Anu eigentlich gutmütig war, zumindest wenn sie mit ihm allein war. Die Gegenwart seines Bruders jedoch schien ihn auf geheimnisvolle Weise zu verändern.
Dann wollte er plötzlich auch auftrumpfen und Recht behalten. Die unausweichliche Folge waren Streit und Rangeleien, bei denen der Jüngere unweigerlich den Kürzeren zog. Isis hasste es, wenn Anu in Tränen ausbrach, und wurde gleichzeitig wütend auf Khay, weil er ihn dazu getrieben hatte.
»Wir kriegen jetzt eine Ama«, sagte Anu und starrte hinüber zu den Wildenten, die sich ein Stück entfernt im seichten Wasser niedergelassen hatten. Natürlich war Khay sofort auf die Idee verfallen, sich anzupirschen. Er band sich ein Schilfbündel am Kopf fest und kroch langsam gebückt näher. Sein Rücken schillerte in allen Regenbogenfarben. Er war erst vor ein paar Tagen nachts die Treppe hinuntergefallen. Zumindest hatte er das Isis gegenüber behauptet. »Sie muss bald da sein«, fuhr Anu fort. »Vater holt sie aus Mennefer.«
»Ist das so etwas wie eine Mama?«, fragte Isis.
Auch Anu hatte solche seltsamen Flecken am Hals, den Armen, vor allem aber an den mageren Schenkeln. Am liebsten hätte sie ihn direkt gefragt, woher sie stammen, aber irgendetwas hatte sie bislang davon abgehalten.
Ein bunt gefiederter Erpel schwamm heran. Mit einem triumphierenden Lächeln drehte Khay sich vorsichtig zu den anderen um. Das Tier gründelte, kam noch näher. Khay schoss aus der Hocke und versuchte es zu packen - umsonst!
Die Schwingen spreizten sich, und mit schwirrenden Schlägen gelang dem Erpel gerade noch rechtzeitig die Flucht.
»So ungefähr«, sagte Anu mit unüberhörbarem Lispeln. »Du hast es gut, weil deine Mama immer bei dir ist. Ich dagegen kann mich gar nicht mehr an meine Mama erinnern. Manchmal frage ich mich, ob es sie wirklich gegeben hat. Oder ob sie vielleicht nur ein Traum war.«
»Aber sie hat dich doch geboren«, sagte Isis altklug, »sonst wärst du ja nicht hier. Meine Mama hat mir neulich ganz genau erzählt, wie das vor sich geht. Und auch, wie man Kinder macht. Willst du es wissen?«
Anus Gesicht wurde flammend rot. »Weiß ich längst«, stieß er hervor.
»Außerdem hast du ja noch deinen Vater«, fuhr Isis fort, die spürte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Er sog die Luft scharf zwischen die Zähne und starrte auf seine schmutzigen Füße. »Schlägt er dich eigentlich?«
»N-n-nie. Fast
Weitere Kostenlose Bücher