Isis
schließlich Anu, der heute noch verlorener aussah als sonst.
»Ist da drin die Mama?« Eingeschüchtert beäugte er den aufwändig bemalten Sarg.
»Ihre Seele hat als Ba-Vogel den Körper verlassen«, erwiderte die Ama belehrend. »Zurück bleibt nichts als eine seelenlose Hülle. Erst wenn der Priester jetzt das Ritual der Mundöffnung vornimmt, kehrt das Leben zurück.«
»Und wird die Mama dann wieder lebendig?«, fragte Anu. »K-k-kommt sie zu uns zurück?«
»Natürlich nicht, du kleiner Idiot«, zischte Khay. »Tot ist tot, kapiert?«
Ein scharfer Blick ihres Vaters brachte sie zum Schweigen.
Die endlosen Litaneien der Priester setzten ein. Selene fühlte sich plötzlich sehr einsam. All die Jahre war sie überzeugt gewesen, Kernet nicht nur lieb gewonnen zu haben, sondern es auch gut zu kennen. Heute aber, in dieser unheimlichen alten Grabkammer, wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass sie sich getäuscht hatte. Sie war und blieb eine Fremde in einem Land, dessen Sitten und Gebräuche ihr fern und unverständlich schienen. Sie musste an ihre winzige Tochter denken, die nicht geatmet hatte, und an das Kleine, dessen Schicksal sie damals in Ruzas Hände gelegt hatten. Inzwischen konnte sie Sarits unstillbaren Schmerz nachvollziehen, jetzt, wo sie selber erfahren hatte, was es bedeutete, ein Kind zu verlieren.
Vor ihr stand leicht erhoben auf einem Gerüst der Sarg, ein kostbares Holzgefäß, mit unzähligen Schutzgöttern bemalt. Der herausgearbeitete Kopfteil zeigte eine Geierhaube, die auf stilisierte Perückenstränge gesetzt war. Mochte der Künstler auch große Sorgfalt auf die Züge verwandt haben - was sie da ansah, war nicht Sarits Gesicht, sondern eine starre, gleichmütige Maske.
Nie wieder würde sie Sarits Lachen hören können, ihren Spott erleben, ihre übersprudelnde Freude, wenn sie etwas entzückt hatte.
Bestimmt lag es am Flackern der rußenden Öllämpchen, die man in großer Anzahl aufgestellt hatte, vielleicht waren es auch die seltsamen Gerätschaften, mit denen die beiden Priester am Sarg hantierten, während sie ihren Singsang anstimmten, oder es waren die Weihrauchschwaden, die aus mehreren Räuchergefäßen drangen - Selene hatte plötzlich das Gefühl, als würde Basas kahlem Diener, der in respektvollem Abstand von der Familie Aufstellung genommen hatte, eine Hundeschnauze wachsen. Und besaß er nicht auch lange spitze Ohren wie der Totengott Anubis?
In ihrer wachsenden Bedrängnis sah Selene sich Hilfe suchend um. Irgendwo zwischen all den Grabbeigaben - Hausrat, Uschebtis, Blumen und Früchten - musste doch die Isis-Figur sein, die sie Basa heimlich zugesteckt hatte! Von Anfang an war Isis unter all den Gottheiten Kemets diejenige gewesen, der sie sich besonders nah gefühlt hatte. Vielleicht konnten sich die Schwingen der Göttin schützend um sie legen und ihr helfen, diese anstrengende Zeremonie besser zu überstehen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Figur nirgendwo entdecken.
Der Kahle stand auf einmal hinter ihr. Sie konnte nicht sehen, was er tat, aber plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz in ihrem rechten Arm. Empört wollte sie sich umdrehen und den Mann zur Rede stellen. Plötzlich aber war jede Bewegung eine Anstrengung. Wellen von Übelkeit fluteten durch ihren Körper. Die Stimmen um sie herum wurden leiser. Selene klammerte sich an die raue Felswand, um Halt zu finden.
Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.
Als sie erwachte, fand sie sich draußen wieder. Sie lag auf dem Boden, einigermaßen bequem gebettet auf einem Tuch.
Offenbar hatte jemand mit Hilfe eines Stocks und eines alten Lappens einen provisorischen Sonnenschutz errichtet. Ihr Oberarm schmerzte, und als sie ihn berührte, konnte sie tiefe, schmerzhafte Kratzer ertasten.
Basa beugte sich über sie.
»Wo ist Isis?«, fragte sie, noch immer ganz schwindlig.
»Habe ich mit der Ama und meinen Söhnen schon mal nach Hause geschickt«, sagte er, zog hinter sich einen Krug hervor und tröpfelte ihr Flüssigkeit auf die ausgetrockneten Lippen.
Selene verzog das Gesicht. »Widerlich süß! Was ist das? Und was ist mit meinem Arm?«
»Ein Stärkungsmittel. Je mehr davon du bei dir behältst, desto besser. Und dein Arm? Du musst dich beim Fallen am Felsen verletzt haben. Komm, ich schau es mir mal genauer an!«
»Ich mag es nicht.« Sie drehte ihr Gesicht weg. »Lass mich bitte!«
»Das sagen meine Jungen auch immer, wenn sie Medizin schlucken sollen. Nimm es!«, beharrte
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