Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
Luft angehalten hatte. Kein Mädchen … eine Frau. Mit besonderen Fähigkeiten. Und mit Tiefgang. Hieß das, dass ich endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, richtig zu lernen? Wo ich andere Mädels treffen würde, die ebenso wissbegierig waren wie ich?
Plötzlich schien alles möglich zu sein. Durfte ich wirklich an Bord dieses Flugzeugs gehen? Durfte ich endlich, zum ersten Mal in meinem Leben, mein wahres Ich weiterentwickeln?
Visionen überfielen mich. Ich sah mich mit den anderen Mädels auf dem Campus herumalbern. Wir würden weiße Anoraks mit pelzbesetzten Kapuzen tragen und uns Schneeballschlachten liefern. Wir würden über das Latein des Mittelalters oder die Rapmusik der Asiatischen Diaspora diskutieren. Ich würde mich nach dem Unterricht mit Ronan zum Kaffeetrinken treffen. Ich würde mich kaum von den anderen unterscheiden. Ich wäre nicht gezwungen, mein Wissen zu verleugnen.
Ich wäre nie wieder gezwungen, mein Wissen zu verleugnen.
Ich hätte mich ängstigen sollen. Aber das hatte ich mir längst abgewöhnt. Die breite Pranke meines Vaters, die auf mein Gesicht zuschoss, ließ mich kalt. Die grimmigen Blicke der anderen Highschool-Kids ignorierte ich schon seit Jahren erfolgreich. Mein einziger Horror war die Vorstellung, für den Rest meines Lebens in einem kleinen Kaff hängen zu bleiben.
Konnte ich mich zu einer richtigen Frau entwickeln? Zu einem selbstbestimmten Wesen, das mal eben an Bord einer Privatmaschine ging, um auf eine Insel weit, weit weg von daheim zu jetten? Ich wünschte es mir so sehr.
»Okay.« Ich öffnete die Beifahrertür. Ich betrat den Asphaltstreifen, den Weg ohne Wiederkehr. Dann warf ich einen Blick über die Schulter. Ronans gequälte Augen waren auf mich gerichtet, und ich hoffte, dass ich die richtige Entscheidung traf, denn so allein auf der Startbahn kam ich mir plötzlich isoliert und völlig verlassen vor. Ich zwang mich zu einem lässigen Tonfall, obwohl mir jede Coolness abhandengekommen war. »Und wie heißt nun diese Insel?«
»Eyja næturinnar – in der Sprache der Alten«, entgegnete er, und ein Hauch von Melancholie schwang in seiner Stimme mit. »Die Insel der Nacht.«
Ich stand am Heck des Wagens und sah ihm nach, wie er auf die Maschine zuging. »Halt«, rief ich und legte eine Hand auf den Kofferraum. »Meine Tasche!«
»Dort, wo wir hinfliegen, brauchst du sie nicht.«
Vorhin im Wagen, eingelullt von seinen Blicken und der Wärme seiner Hände, hatte ich dem Flug noch entgegengefiebert. Aber jetzt, im grellen Sonnenlicht von Florida, war ich wieder unsicher.
»Aber … mein Zeug.« Das Foto meiner Mutter. Mein Großwörterbuch. Meine echten Converse und mein iPod. Ich musste wenigstens ein paar Erinnerungsstücke behalten. Um nicht zu vergessen, wer meine Mutter war. Wer ich war.
»Du kriegst neues Zeug«, sagte er trocken.
Plötzlich packte mich der Abschiedsschmerz. Bestimmt gab es Wörterbücher auf dieser Insel. Und mit Converse-Chucks kam ich im Schnee ohnehin nicht weit. Aber dieses Bild war alles, was ich von meiner Mom hatte.
Und Musik? Sie hatte mich am Leben erhalten. Ohne Musik hätte ich längst aufgegeben. Ohne Led Zeppelin, ohne den herrlich kitschigen Pop der Franzosen, ohne den Indierock von Death Cab for Cutie. Ausgeschlossen. »Aber mein iPod …«
»Ist auf der Insel nicht erlaubt«, beendete er den Satz für mich.
»Aber …« Mein Blick wanderte zwischen Ronan und dem Flugzeug hin und her. Ich blinzelte gegen die gleißenden Sonnenreflexe auf dem glatten Metall an. Die Tür des Jets ging auf, und obwohl der Passagierraum im Halbdunkel lag, sah ich eine laufstegtaugliche Stewardess mit einem Getränketablett vorbeischweben.
Noch nie war Luxus für mich so zum Greifen nahe gewesen. Ich ging ein paar Schritte näher. Ein Lederpolster schob sich in mein Blickfeld. Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können. Das Innere wirkte komplett durchgestylt. Der Teppichboden in Beige voll auf die hellbraunen Ledersitze abgestimmt. Elegant und irgendwie Respekt einflößend.
Ich wandte mich wieder Ronan zu. Sein Blick umfing mich, und wieder rieselte Wärme über meine Haut. Ich reagierte sofort auf ihn, als habe zwischen uns eine Art Prägung stattgefunden, und ich wusste, dass ich ihm folgen würde, egal wohin er ging.
Mit Mühe ließ ich von Ronan ab und konzentrierte mich auf den Kofferraum. Ich ging hier nicht ohne das Bild meiner Mom weg. Und wenn ich schon das Foto an Bord schmuggelte, konnte ich auch gleich
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