Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
ihn verließ.«
»Was geschah?«
»Wir lebten im Verborgenen, bis ich fast erwachsen war. Dann fand er uns.« Er lachte gequält. »Vermutlich über das Internet.«
Das war offensichtlich erst der Anfang der Geschichte. »Und?«
Er schloss die Augen und atmete tief durch. »Er brachte meine Mutter um. Und dann brachte ich ihn um.«
In diesem Moment sah ich die große Finsternis hinter Yasuos lässiger Maske. Er räusperte sich, und die Schatten flohen von seiner Stirn. »Als ich wieder klar denken konnte, saß ich in einem eleganten Lincoln, der mich zu einer Flugpiste in L.A. brachte.«
»Die Vampire?«
»Yeah. Ein Sucher namens Gunnar spürte mich auf.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich war neugierig und hatte nichts zu verlieren. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder bleiben und es mit den Killern meines Onkels aufnehmen – oder das hier .« Wir näherten uns der Mensa, und er deutete nach vorn. »Glaub mir, das hier erschien mir als das kleinere Übel.«
»Mann, Scheiße!«, flüsterte ich. Ronan stand auf den Eingangsstufen.
»Was ist?« Yasuo spannte sich an.
Ich musterte Ronan. Wir sollten uns erst später am Schwimmbecken treffen, aber da stand er mit ernster Miene und einer sperrigen Schachtel unter dem Arm. »Du weißt nie, wem die Stunde schlägt …«
»Äh … was ?«
»Mir schlägt sie. Mir.«
»Phantasierst du, oder was?«
»Nein.« Ich seufzte. »Es ist nichts. Geh schon mal voraus, Yas. Ich komme gleich nach.«
Alarmglocken schrillten in meinem Hinterkopf, als ich auf Ronan zutrat. Ich warf einen skeptischen Blick auf das Paket. »Was ist das?«
»Für dich.« Er reichte mir die Schachtel. Sie war schwer und unförmig, und ich hatte Mühe, sie in Empfang zu nehmen. »Das ist dein Taucheranzug.«
Ich rutschte auf den Beifahrersitz und knallte die Tür des alten Range Rover heftiger zu als nötig.
Mittags hatte ich keinen Bissen heruntergebracht.
Der Fitness-Unterricht hatte sich endlos in die Länge gezogen.
Die Gehässigkeiten, die Lilou gegen mich abfeuerte, waren noch schwerer zu ertragen gewesen als sonst.
Zwei Bilder kreisten unablässig, ja geradezu zwanghaft in meinem Kopf: der in Segeltuch eingeschlagene Leichnam des Mädchens, den sie aus der Schwimmhalle getragen hatten, und der unförmige schwarze Neoprenanzug, der in meinem Spind hing wie ein dickhäutiges Meeresungeheuer. Bedeutete der Anzug, dass ich tauchen musste? Dass ich den Atem anhalten musste, bis blutiger Schaum aus meinem Mund quoll? Dass die Unterwasserübungen meine inneren Organe zum Platzen bringen konnten? Dass Teile meiner Eingeweide an der Wasseroberfläche treiben würden?
»Warum können wir nicht wie ganz normale Leute in der Halle schwimmen?«, fragte ich Ronan zum x-ten Mal. »Der Einzelunterricht hat viel gebracht, aber ich bevorzuge immer noch das seichte Ende des Beckens.« Schon erstaunlich, wie die Aussicht auf ein nächtliches Bad in der eisigen Nordsee einem Schwimmbecken jeden Schrecken nehmen konnte!
Ich starrte aus dem Fenster. Obwohl die Märzsonne später unterging als bei unserer Ankunft im Januar, verdüsterte sich der Himmel bereits am Nachmittag zu einem trüben Grau. »Es wird bald dunkel. Ist das nicht gefährlich? Sollten wir so etwas nicht bei Tage unternehmen?«
»Bis zum Einbruch der richtigen Dunkelheit bleiben uns noch ein paar Stunden Zeit.« Ohne auf meinen gereizten Tonfall zu achten, schnallte sich Ronan fest und legte gelassen den Gang ein. »Außerdem wäre ein Nachtschwimmen eine gute Übung. Du wirst draußen in der Welt selten ideale Bedingungen vorfinden. Daran solltest du dich schon jetzt gewöhnen.«
»Muss das denn unbedingt von null auf hundert sein? Was ist aus meiner Nudel und dem kleinen blauen Schwimmbrett geworden?«
Unvermittelt lenkte er den Wagen an den Rand der Kiesstraße. »Die Kämpfe werden bald beginnen, Annelise. Und dann sind diese Mädchen nicht nur im Hörsaal deine Rivalinnen. Willst du wirklich, dass sie dich am seichten Ende des Beckens herumstrampeln sehen?«
Kämpfe. Einige Mädels hatten bereits den Tod gefunden, und doch behauptete Ronan, dass die Ausscheidungswettbewerbe noch nicht richtig angefangen hatten? Mein Mund fühlte sich trocken an. Ich schluckte. »Hm. Natürlich wäre es mir lieber, wenn sie mich im Taucheranzug sähen und für eine obercoole Socke hielten.«
»Das klingt schon besser.« Er legte den Gang wieder ein und bog auf einen Weg ab, den ich zuvor nicht gesehen hatte. Wir rumpelten über Felsbrocken
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