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Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter

Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter

Titel: Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Wolff
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mich immer Ann genannt. Das hatte ich völlig vergessen. Aber jetzt konnte ich ihre Stimme hören, so klar, als befände sie sich dicht neben mir und flüsterte mir den Namen ins Ohr. Der Klang erwärmte mich, besänftigte mich.
    Ich nickte und schaffte es endlich, die Nackenmuskeln zu entspannen. »Okay. Jetzt.« Ich schloss die Augen. Das sanfte Klatschen der Wellen, die ans Ufer schlugen, drang in mein Bewusstsein. Ich atmete tief durch, schlug die Augen wieder auf – und völlig unvermutet bot sich mir ein herrlicher Anblick.
    Ein Flackern und Schimmern begann tief unten am Horizont, verbreitete sich in wirbelnden, leuchtend grünen Bändern, als habe ein kindischer Gott einen Eimer Farbe über den Himmel gekippt. Ich keuchte. Aurora borealis.
    »Siehst du das? Ein Nordlicht.«
    »Yeah«, stieß ich hervor. Das grandiose Schauspiel machte mich sprachlos. Ich kam mir mit einem Mal ganz klein vor.
    »Ich habe dich übrigens längst losgelassen.« Ronans weiße Zähne blitzten unheimlich im Dunkel.
    Jetzt erst fiel mir auf, dass ich seine Hände nicht mehr spürte. Ich lachte los, aber sofort sank ich ein Stück, und so hielt ich mich ganz still und schaltete mein Denken so weit wie möglich aus. Langsam trieb ich wieder an die Oberfläche. Ich fühlte mich wie ein Büschel Kelp, das träge in den Wellen schaukelte. Das Wasser in meinen Ohren und Augenwinkeln störte mich nicht mehr.
    Wenn ich lernen konnte, auf dem Rücken im Wasser zu treiben, dann konnte ich alles lernen. Sogar schwimmen. Vielleicht sogar kämpfen. Der Semesterpreis würde mir gehören.
    Meine Gedanken wanderten zu Ronan. Weshalb hatte er diese harte Ausbildung auf sich genommen? Weshalb hatte er dieses Leben gewählt? Er kam von der Insel, das hatte er gesagt. Aber war er hier geboren? Wie sah seine Vergangenheit aus? Und noch wichtiger: Weshalb war er nur Sucher? Wenngleich er und seine Kollegen stärker und intelligenter wirkten als die meisten Normalmenschen – vermutlich ein Nebenprodukt des Vampirbluts –, weshalb wählte jemand wie er nicht die Unsterblichkeit? »Warum willst du eigentlich kein Vampir werden?«
    Eine Weile hörte ich nur das Klatschen der Wellen, und ich dachte schon, er würde meine Frage nicht beantworten, aber dann murmelte er: »Unerträglich.«
    »Warum?« Meine Stimme war ein Flüstern.
    »Weil das Leben genau das wäre, bis in alle Ewigkeit. Zusehen, wie ein geliebter Mensch nach dem anderen stirbt, während ich zurückbleibe? Ein Leben erfüllt von Kummer und Trauer. Unerträglich.«
    »Das klingt, als hättest du das schon mal durchgemacht. Die Trauer, meine ich. Die Trauer nach einem großen Verlust.«
    »Aye, das habe ich. Und es steht auch dir noch bevor.«
    Wenn das so furchtbar war, dann verstand ich nicht, weshalb er sich fürs Bleiben entschieden hatte. Und weshalb er weiterhin Mädchen wie mich auf die Insel brachte. »Wenn das Leben hier so trostlos ist, weshalb hilfst du mir dann, es durchzustehen?«
    Obwohl das im Dunkel schwer zu erkennen war, schien sich sein Körper zu straffen. Anzuspannen. »Jemand hat Interesse an dir bekundet.«
    Mein Mut sank. Das war der einzige Grund? Der Gedanke, dass es da draußen irgendwen gab, der mich belauerte, jagte mir eine Höllenangst ein. Aber schlimmer noch, ich hatte mir eingeredet, dass Ronan mir aus freien Stücken half. »Oh«, sagte ich leise und verfluchte die dämliche Melancholie in meiner Stimme.
    »Und ich gestehe …« Er schüttelte den Kopf, als bereute er, dass er dieses Thema angeschnitten hatte. »Ich gestehe, dass du mich an jemanden erinnerst.«
    Eine Ex-Freundin? Eine Geliebte? »An wen?«
    Unvermittelt wandte er sich ab. Ich sank wie ein Stein. Mühsam kam ich wieder an die Oberfläche und wischte mir das Salzwasser aus den Augen.
    »Das reicht für heute.« Ronan watete zurück zum Ufer. Seine Schultern schlingerten von einer Seite zur anderen, und er zog die Knie sehr hoch, um über den Schaum der Brandung hinwegzusteigen. Es war wie eine Flucht. Eine Flucht vor mir. »Ein Sturm ist im Anzug. Und es gibt bald Abendessen. Du musst trinken.«
    Eine hohe Woge schlug mir von hinten gegen die Schenkel, und ich geriet ins Stolpern. Im letzten Moment fand ich mein Gleichgewicht wieder. Falls ich mir eingebildet hatte, dass da ein ganz normaler Typ einem ganz normalen Mädchen half, das Schwimmen zu erlernen, dann zerschellte diese Illusion an drei Worten. Du musst trinken.
    Ich fand es so pervers, so abstoßend, meinem Körper etwas zu

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