Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
verabreichen, das zuvor durch fremde Adern geflossen war. Aber beunruhigender als der Gedanke, dass ich dieses elende klebrige Zeug trinken musste, war die Erkenntnis, dass ich beinahe süchtig danach war.
Wir hielten einige Schwimmstunden dieser Art ab, und Crispin’s Cove entwickelte sich allmählich zu unserem Treff, abgeschieden und vertraut. Ich liebte die frische Luft und merkte, dass ich den Salzgeschmack der See dem viel zu stark gechlorten Hallenbecken vorzog. Das schwarze Wasser versetzte mich längst nicht mehr so in Panik wie bei meiner ersten Lektion, und anstatt mich einfach treiben zu lassen, pflügte ich mittlerweile mit kräftigen Kraulzügen durch die Wellen.
Ronan und ich schälten uns aus den Neoprenanzügen, trockneten uns rasch ab und zogen uns im Dunkel um, ich hinter einem der größeren Felsblöcke, wo ich ungestört war.
Ich fuhr mir mit den Fingern durch das halb trockene Haar und redete belangloses Zeug, während wir uns dem Haupteingang des Wohnheims näherten. Sie erwarteten uns in der Diele.
Ich wusste sofort, dass etwas passiert war. Fast alle waren da. Die Eingeweihten, die Aufseherinnen.
Hatte es wieder einen Todesfall gegeben? Nein, dachte ich, bisher war nie großes Aufhebens um die verunglückten Mädchen gemacht worden. Ich warf einen Blick in die Menge, und meine Panik wuchs. Alle starrten mich an.
Vor allem die Mädchen aus meinem Stockwerk funkelten mich so wütend an, als hätte ich ihre Lieblingskätzchen ertränkt. Mit Ausnahme von Lilou. In ihren Augen blitzte so etwas wie hinterhältige Schadenfreude.
Meine Betreuerin Amanda trat vor, und ich erstarrte zu einer Marmorstatue. Ihr frostiges Nicken beunruhigte mich mehr als jeder boshafte Blick, den mir Lilou zuwarf. »Drew, warum hast du das getan? Die Sache mit dem Foto verstehe ich ja noch, aber hast du im Ernst geglaubt, du könntest hier einen iPod behalten?«
Langsam drangen ihre Worte in mein Bewusstsein. Das Bild meiner Mutter. Konfisziert. Ich stand da wie betäubt, fühlte mich am Boden zerstört.
Und der iPod? Hier in meiner neuen Welt kam es mir mit einem Mal total dämlich vor, dass ich es beim Aufbruch nicht geschafft hatte, mich von so einem albernen Gerät zu trennen. Aber dann erwachte in mir wieder die Drew von früher. »Das ist doch bloß ein iPod«, murmelte ich vor mich hin.
Zu meinem Pech verstand Guidon Masha, was ich sagte. Ihre Peitsche zischte durch die Luft und traf, obwohl ich dicke Wintersachen trug, mit brutaler Genauigkeit. Ich merkte erst, dass mir die Lederschnur die Haut aufgerissen hatte, als das warme Blut über meine Wange strömte. »Schweig, Acari!«
Übelkeit stieg in mir auf. Ich befand mich in ernsten Schwierigkeiten, und wer konnte schon sagen, welche Strafen diese Freaks für Mädchen in Schwierigkeiten bereithielten?
Ich warf einen flüchtigen Blick zu Ronan hinüber, aber er wirkte so entgeistert, so zutiefst gekränkt, dass ich mich abwenden musste. Wenn ich früher mal Mist gebaut und etwas verbockt hatte, war das ganz allein meine Sache gewesen. Nun jedoch sah ich an Ronans und Amandas betroffenen Mienen, dass ich auch ihnen geschadet hatte. Dass ich sie enttäuscht hatte.
Lilou unterdrückte jetzt mühsam ein Grinsen, und ich sah sie mit unverhohlenem Hass an. Das hier war ihre Schuld. Sie musste mich verpfiffen haben. Sie hatte meine Sachen durchwühlt, den iPod und das Foto gefunden und auf den richtigen Moment gewartet, um mich auffliegen zu lassen.
Den Semesterpreis konnte ich vergessen. Jetzt bekam ich nie mehr die Chance, die Insel zu verlassen. Selbst die Chance, diese Nacht zu überleben, schätzte ich als äußerst gering ein.
Falls ich allerdings durchkommen sollte, dann war sie dran. Das hatte ich mir schon nach meinem Lauf durch die eiskalte Nacht geschworen. Aber diesmal würde ich mich nicht mit einer Ladung Schnee begnügen. Diesmal würde ich richtig austeilen.
»Leider ist es so, dass alle Acari büßen, wenn eine von ihnen auf Abwege gerät.« Guidon Trinity, die rothaarige Eingeweihte, hatte das Wort ergriffen. Ihre Stimme klang kultiviert, aber sehr scharf, und ich zuckte zusammen. Bisher hatte ich sie in eine ähnliche Kategorie wie Lilou eingeordnet, eine Spur stilvoller vielleicht als Schnepfi, und ich fragte mich, in welchem Schweizer Internat man sie wohl aufgestöbert hatte. »Ihr begebt euch jetzt alle nach draußen, so wie ihr seid, ohne euch umzuziehen. Man wird euch die Augen verbinden und gruppenweise in die Wildnis fahren. Von
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