Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
zog verächtlich die Oberlippe hoch, und blanker Hass stand in ihren Augen. In diesem Moment erinnerte die schillernde Schnepfe eher an ein tollwütiges Playboy-Bunny. »Was weißt du denn schon?«
Mehr als du , lag mir auf der Zunge, aber ich hielt den Mund. Auch wenn ich große Töne spuckte – ich legte es nicht im Ernst darauf an, dass Lilou mein Bett anzündete, während ich schlief.
Sie zog ihr Deutsch-Übungsbuch aus der Tasche, fläzte sich auf ihr Bett und beachtete mich nicht mehr.
Ich schnappte mir Sun Tzus Die Kunst des Krieges von meinem Schreibtisch und vertiefte mich in Weisheiten, die mir fast plausibel erschienen, als ich das Geräusch vernahm. Ein leises Knistern.
Ich drehte mich um, aber Lilou schien über ihrer Grammatik-Hausaufgabe eingeschlafen zu sein. Mein Blick wanderte zu dem winzigen zusammengefalteten Zettel, den jemand unter der Tür durchgeschoben hatte.
War er für mich bestimmt? Argwöhnisch richtete ich mich auf. Oder galt er Lilou? Ich wusste nicht recht, welche der beiden Möglichkeiten das größere Dilemma darstellte.
Ich wartete, aber Lilou rührte sich nicht. Wie durch ein Wunder schlief sie weiter, mit gleichmäßigen Atemzügen, die das Buch unter ihrem Kopf rascheln ließen. Ich beschloss, etwas zu unternehmen, bevor sie aufwachte oder mein Nacken steif wurde. Auf Zehenspitzen huschte ich zur Tür.
Ich hob den Zettel auf und schlich zurück zu meinem Bett, jeden Moment darauf gefasst, Lilous anklagendem Blick zu begegnen. Aber nichts geschah.
Wie sich herausstellte, war die Nachricht an mich gerichtet, hingekritzelt in flüchtigen, kaum lesbaren Buchstaben. Eine Jungenschrift.
Drew,
etwas ist passiert. Sie sagen, dass ich diese Nacht vielleicht nicht überleben werde. Ich erwarte dich um Mitternacht bei den Steinen in der Nähe der Burgtore. Bitte. Ich brauche dich.
Yas
Mir wurde eiskalt, als ich die Botschaft las.
Sie sagen, dass ich diese Nacht vielleicht nicht überleben werde.
Was bedeutete das? Lag er etwa im Sterben? Stand ihm ein Kampf bevor? Oder hatte er einen Kampf verloren? Ich konnte mir einfach nicht denken, worum es ging. Die Vampiranwärter verrieten nichts über ihre Angelegenheiten. Wir Mädchen hatten keine Ahnung, was sich hinter den verschlossenen Burgtoren abspielte.
Yasuo brauchte mich. Aber heute Nacht? Nach der Ausgangssperre? Quer über den Campus, vorbei an den mehr als unheimlichen Steinsäulen und weiter zur Burganlage? Ich wagte mir nicht auszumalen, wie viele Regeln ich bei einem solchen Unternehmen brach.
Wieder warf ich einen Blick auf den Zettel. Vier Worte sprangen mir in die Augen. Ich brauche dich. Bitte.
Letzten Endes gab das den Ausschlag. Ich hatte einen Freund, und er brauchte mich. Mich. Niemand hatte mich bisher gebraucht.
Gegen Mitternacht würde ich so ziemlich jede Regel brechen, die uns Acari auferlegt war. Ich würde mich an den Steinsäulen vorbei in den verbotenen Bezirk der Hügelburg wagen.
Ins Innere der Vampirfeste.
Ich lag im Bett und wartete darauf, dass die Zeit verging. So wie es aussah, würden diese Stunden als die längste Nacht im Leben der Annelise Drew in die Annalen eingehen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was geschehen war. Yasuo hatte geschrieben, dass sie ihm mit dem Tod drohten. Aber wer waren sie ? Vampire? Vampiranwärter? Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte. Ich wusste nur, dass er mich um Hilfe gebeten hatte, und mir war klar, dass ich seiner Bitte nachkommen würde.
Ich war erst einmal bei den Steinsäulen gewesen, aber Emma und ich hatten die Burg aus der Ferne gesehen, damals, in der Nacht der Bestrafung. Ich glaubte, dass ich den Weg dorthin finden würde. Flüchtig überlegte ich, ob ich sie holen oder ihr zumindest Bescheid sagen sollte, wohin ich mich begab, doch ich verwarf den Gedanken schnell. Yasuo befand sich bereits in Schwierigkeiten, und das Gleiche galt für mich, wenn sie mich erwischten. Besser war es, Emma aus der Geschichte herauszuhalten.
Und wenn sie mich erwischten? Ich dachte an die verheerenden Folgen, die ein Foto und ein lächerlicher iPod hervorgerufen hatten. Oder an Mimi. Sie hatte nichts Schlimmeres getan, als einem Vampir zu widersprechen, und der Rektor hatte sie, um ein Exempel zu statuieren, vor den Augen aller Acari zerfleischt. Was blühte mir, wenn ich so ziemlich gegen jedes Gesetz dieser Insel verstieß?
Kein Lob, so viel stand fest. Ausgang nach der Sperrstunde? Verlassen des vorgeschriebenen Wegs, um zu den Steinsäulen zu
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