Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
meinen Fächern hart gearbeitet und gute Fortschritte erzielt. Außerdem finde ich eine Mission fern von dieser Insel durchaus verlockend.«
Und wie verlockend. Ich wusste sicherer denn je, dass ich keine andere Wahl hatte, als möglichst schnell von hier wegzukommen.
»Bist du deshalb meinem Ruf gefolgt?«, fragte er mit erhobener Stimme.
Ich räusperte mich, in der Hoffnung, nicht nur die Kehle, sondern auch mein Gehirn freizubekommen. Weshalb war ich eigentlich hier? Nicht Master Alcántara hatte mich hierherbestellt, sondern Yasuo . Semesterpreis hin oder her, ich fand, dass es hier einiges klarzustellen gab. Angenommen, dieser Zettel stammte von Alcántara, und das Ganze war ein raffiniert ausgeklügelter Test? »Eigentlich nicht. Ich … ich erhielt eine Botschaft.«
Er lachte, aber ich konnte nicht erkennen, ob er verärgert oder belustigt war. »Ich sehe, du verstehst dich nicht aufs Lügen. Weißt du, dass du mit dieser Antwort eben dein Leben gerettet hast, kleine Acari? Ich hasse Lügen – und ich töte schon bei geringeren Vergehen.«
Ich schluckte. »Ich bin keine Lügnerin.«
»Darüber wollte ich mir Gewissheit verschaffen.« Er verneigte sich feierlich, als habe ich soeben einen Zug in einem Schachspiel für mich entschieden. »Nun erzähl mir mehr von dieser Botschaft. Nein –« Er hob die Hand, noch bevor ich etwas sagen konnte. »Es ist wohl besser, wenn du die Geschichte von mir erfährst, denn ich weiß mehr darüber als du.«
Mein Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen. Stand Yasuo unter Beobachtung? Drohte ihm Gefahr? »Woher wissen Sie von der Nachricht an mich?«
Er schüttelte den Kopf. »Mach kein so trauriges Gesicht, arme kleine Acari«, sagte er mit einer Mischung aus Spott und gespieltem Mitgefühl. »Ich werde immer mehr wissen als du.«
Er musterte mich, und ich wand mich innerlich unter seinem Blick. »Obwohl dir das vermutlich zusagt. Du hast doch immer davon geträumt, von der Erfahrung derer zu profitieren, die mehr wissen als du. Deshalb wollte ich dich haben. Du genießt es, Neues aufzunehmen. Du blickst auf die Unwissenden herab. Du lässt dich von Wissen verführen . Sehnst dich nach Momenten, in denen deine Neugier befriedigt wird.«
Aus seinem Mund klang das, als sei die Befriedigung von Wissbegier so etwas wie Sex. Mein Herz klopfte schneller. Ich spürte, wie er seinen Arm gegen meinen presste. Was ging hier vor? Die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten. Ich fühlte mich gegen meinen Willen zu ihm hingezogen, denn eigentlich stieß er mich ab. Oder doch nicht?
»Die Botschaft kam nicht von diesem Jüngling Yasuo. Ich beobachte ihn nämlich. Was findest du nur an einem so unreifen Knaben?« Er hielt den Kopf schräg und sah mich einen Moment lang mit schmerzlicher Ratlosigkeit an.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich misstrauisch.
Master Alcántara holte tief Luft und schien auf diese Weise die trüben Gedanken aus seinem Innern zu verscheuchen. »Die Botschaft kam von Lilou. Ja, sie hat dir eine Falle gestellt.«
Wut schäumte in mir auf, brodelte wie Säure durch mein Inneres. Jetzt ergab alles einen Sinn. Lilou. Natürlich. Sie hatte jemanden beauftragt, den Zettel unter der Tür durchzuschieben.
Aber gleich darauf durchflutete mich kühle Erleichterung, lockerte Muskeln, die ich angespannt hatte, ohne es zu merken. »Dann ist Yasuo in Sicherheit?«
»Du erstaunst und faszinierst mich immer wieder, cariño . Ich begreife nicht, weshalb du dein Leben aufs Spiel setzt, weshalb du eine Belohnung gefährdest, die du so heiß begehrst …« Sein Blick deutete an, dass er nicht nur den Semesterpreis meinte, sondern etwas oder jemand von weit größerem Wert. »Ich begreife nicht, weshalb du das alles riskierst – für einen Jungen, den du erst seit wenigen Monaten kennst.«
»Yasuo ist mein Freund. Ich dachte, er sei in Schwierigkeiten.«
Er starrte mich an wie ein äußerst seltenes und bezauberndes Schmetterlingsexemplar. »Ich weiß Treue zu schätzen. Und deshalb wirst du heute Nacht nicht sterben. An jedem anderen auf frischer Tat ertappten Mädchen hätte ich ein Exempel statuiert. Aber dich will ich verschonen.«
Er rückte näher und strich mir über das Haar. Einen Moment lang glaubte ich, er würde mich küssen. Ich machte mich stocksteif und hielt den Atem an. Wollte ich, dass er mich küsste? Eigentlich nicht. Und doch betrachtete ich lange seinen perfekt geschwungenen Mund.
Absurdes Zeug ging mir durch den Kopf. Küssten Vampire
Weitere Kostenlose Bücher