Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
kommen.
Erst vor wenigen Sekunden hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ein neues Leben zu beginnen, ohne Verpflichtungen, in der Hoffnung, einen Sinn in ihrem Dasein zu finden, der nicht nur darin bestand, den Erwartungen ihres Vaters gerecht zu werden. Jetzt musste sie mit einer Mischung aus Demut und Niedergeschlagenheit vor sich selbst zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihr Leben allein bestreiten sollte.
Wie in Trance machte sie sich auf den Weg zu Philip, und ihre Gedanken lösten sich in einem Strudel der Verworrenheit auf. Die Schrecken der letzten Stunden und Erschöpfung trieben sie zu ihm, das einzig vertraute Gesicht in einer Welt, die plötzlich aus den Fugen geraten war. Sie fühlte sich so hilflos, wie der Hund sich gefühlt haben musste, bevor sie ihn befreit hatte: gefangen hinter einer Glasscheibe in einem brennenden Gebäude, der Gnade der einzigen Person ausgeliefert, die willens war, sie zu retten. Der kurze Traum, einfach zu verschwinden, wirbelte außer Reichweite. Er hatte nicht mehr Substanz als die Rauchschwaden, die über dem See hingen. Es war Zeit, zu dem Leben zurückzukehren, das für sie geplant war, und zu dem Mann, der über den Rest dieses Lebens bestimmen würde.
Vom See gekühlte Windböen jagten ihr nach, als sie langsam die steile Böschung zu der Stelle erklomm, an der Philip wartete, inzwischen auf dem Trittbrett seiner Kutsche stehend. Lähmende Müdigkeit erfasste sie, Umrisse begannen vor ihren Augen zu verschwimmen, Resignation umnebelte ihre Gedanken. Alles, sagte sie sich, alles ist der Hölle vorzuziehen, die ich eben durchlitten habe.
Schließlich kam Deborah bei ihm an, bei dem Mann, den sie heiraten sollte. Dem Mann, der von der feinen Gesellschaft als das amerikanische Äquivalent zu einem Prinzen der Alten Welt angesehen wurde. Dem Mann, der Arthur Sinclair zu Enkeln verhelfen würde, die in denselben Kreisen wie die Guggenheims und die Vanderbilts verkehrten.
Philips gut geschnittenes Gesicht, so vornehm, dass es im Schein der Flammen wunderschön aussah, war ihr Leuchtfeuer. Er hielt ihr eine behandschuhte Hand hin. „Dem Himmel sei Dank, Liebling, dass ich dich gefunden habe.“ Er sprach in dem trägen gedehnten Tonfall, der ihn als Mitglied des Harvard Porcellian Club verriet. „Was für ein Glücksfall!“
Sie starrte auf die von schwarzem Leder umhüllte Hand, mit der er ungeduldig nach ihr griff.
„Komm schon“, sagte er. „Ich habe nicht vor, die gesamte Nacht hier zwischen all dem Pöbel zu … verdammt!“
Der kleine Hund hatte nach ihm geschnappt. Philip starrte erst die Kreatur an, dann Deborah. „Wo, zum Teufel, hast du den denn her?“
„Aus einem brennenden Laden …“ Anstelle ihres Verstandes war da ein kreischendes Durcheinander; Gedankenfetzen schossen ihr zusammenhangslos durch den Sinn, waren fort, ehe sie sie fassen konnte. Sie fühlte sich wie betäubt und konnte kaum sprechen.
„Macht nichts“, sagte Philip. „Lass das verdreckte Vieh los und nimm meine Hand. Komm schon, sei ein braves Mädchen.“
Das Kreischen in ihrem Kopf wurde lauter, aber wie eine Schlafwandlerin gehorchte sie. Das hier war Philip, um Himmels willen. Der Philip, den sie von klein auf kannte. Der mit ihr Tanzstunden durchlitten hatte, der steif im Arbeitszimmer ihres Vaters gesessen und versprochen hatte, Deborah Zutritt zu den höchsten Gesellschaftskreisen zu verschaffen im Gegenzug für ihre Hand zur Ehe … und eine umwerfend hohe Mitgift.
Sie drängte das ungute Gefühl beiseite, das sie zurückhielt. Bei Miss Boylan hatte sie gelernt, Skandale um jeden Preis zu vermeiden – lieber Verletzungen, körperlich oder seelisch, Schmerzen oder Beleidigungen in Kauf zu nehmen. Nur die vulgärsten Menschen machten eine Szene. Diese Lektion war ihr derart eingehämmert worden, dass sie den kleinen Hund absetzte. Er hüpfte um ihre Füße, sprang an ihr hoch und kratzte mit den Pfoten verzweifelt an ihrem Rock, aber sie ignorierte das Tier, weigerte sich, nach unten zu sehen.
Philip ließ die Peitsche mit einer geschickten Bewegung des Handgelenks zucken. Der Hund jaulte auf und lief davon, suchte unter der Kutsche Schutz. Deborah kam endlich wieder zu sich und versuchte dem Hund zu folgen, bückte sich tief nach unten, um unter das Gefährt zu schauen. Philip fasste nach ihr, und schloss seine Hand um ihren Arm, zog sie hoch.
„Nicht so schnell“, sagte eine raue Stimme hinter ihr, schrecklich, wie aus einem Albtraum. „Sie kommt mit
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