Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
sehnte.
Aber das kam nicht infrage, auch wenn alles in ihr sie drängte, sich geschlagen zu geben. Fieberhaft dachte sie darüber nach, was sie tun sollte. Kathleen würde irgendetwas unternehmen. Sie war niemand, der einfach still sitzen konnte. Lucy würde diesen Männern mit rechtschaffener Empörung entgegentreten und ihnen Vorhaltungen wegen der Unmöglichkeit ihres Benehmens machen. Phoebe würde versuchen, sich bei ihnen einzuschmeicheln und ihnen die Sache auszureden.
Schließlich traf Deborah eine Entscheidung. Entschlossen setzte sie den zotteligen kleinen Hund ab und ging zum Heck des Schiffes. Sie hatte heimlich dabei zugesehen, wie Silver das kleine Boot hochgezogen hatte, sodass sie hoffte, es möge ihr gelingen, es wieder zu Wasser lassen.
Das unheimliche Licht von der Stadt war hell genug, um durch den Rauch und den Nebel zu dringen. Aber je weiter sie sich von Chicago entfernten, desto schwächer wurde das Licht. Sie würde sich beeilen müssen.
Sie fand den Mechanismus, der die Winde lösen würde, und hakte ihn auf. Die Ketten machten ein schreckliches Geräusch, entrollten sich mit einem hässlichen Rasseln. Das kleine Ruderboot landete mit einem Platsch im Wasser, dann wirbelte es im Fahrwasser des Kutters umher. Das große Schiff fuhr wesentlich schneller, als Deborah es sich vorgestellt hatte.
Hastig blickte sie über die Schulter und vergewisserte sich, dass die Männer im Ruderhaus nichts gehört hatten. Sie dachte an den kleinen Hund, der sich zitternd in eine Ecke auf dem Deck kauerte, aber sie konnte nur sich selbst retten. Sie erklomm den Heckbalken und hielt sich an der Leiter fest, die an der Bootswand hinunterführte.
Deborah suchte in sich nach irgendetwas, das ihr als Richtschnur und Weisung dienen könnte. Sie wünschte sich so sehr, mutig zu sein. Doch sie verspürte nichts als eisiges, beklemmendes Grauen. Ehe sie es sich hätte anders überlegen können, schwang sie erst ein Bein, dann das andere über die Reling und kletterte die Leiter hinunter, so weit, wie sie kam. Kalte Gischt hüllte sie ein und nahm ihr fast völlig die Sicht, während sie in das Ruderboot stieg. Sie kämpfte mit den Knoten, aber schließlich schaffte sie es, sie aufzubinden.
Binnen Sekunden trieb sie auf dem windgepeitschten See, während der Kutter nordwärts fuhr. Sie konnte es nicht glauben. Sie war entkommen.
Kalte Wellen schlugen gegen die Bootswand und in die kleine hölzerne Jolle. Wasser schwappte auf dem Boden umher. Deborah lachte befreit, legte die Ruder in die Dollen und begann zu rudern. Bei dem Wilden hatte es ganz leicht ausgesehen, aber das Wasser fühlte sich so schwer wie Schlamm an.
Dennoch wäre ihre Flucht vielleicht von Erfolg gekrönt gewesen, hätte sie nicht einen entscheidenden Fehler gemacht. Sie hätte den Hund mitnehmen sollen.
Das kleine Biest stellte sich mit den Vorderpfoten auf die seitliche Reling des Kutters und kläffte schrill in die Nacht. Sie hoffte, das Getöse der Maschinen würde das Gebell übertönen. Sie hielt den Atem an, betete verzweifelt, die Entführer würden den Lärm überhören. Aber dann sah sie den Kutter wenden und zurückkommen, wie das Ungeheuer aus Loch Ness auf sie zuhalten.
An Deck tauchte eine hünenhafte Gestalt auf, einen Enterhaken in der Hand.
Die beengte Unterkunft, in der Deborah erwachte, hatte einen sehr kleinen Eingang und ein schmales Fenster mit Jalousie. Es war keine richtige Kabine und würde nie und nimmer zahlenden Passagieren angeboten werden können, vielmehr war es ein besserer Lagerraum mit einem Stapel Decken darin. Im schwachen Licht untersuchte sie ihre unmittelbare Umgebung, fand ein zusammengerolltes Tau, eine Kiste mit Werkzeug, ein Hemd mit Schimmelflecken und zwei Dinge, die sie vor ein Rätsel stellten – ein Kinderschuh und eine Ausgabe von Les Misérables im Original, also auf Französisch. Sie stieß auf eine leere Flasche, einen bebilderten Farmer-Almanach, ein Glas mit schimmernden halbdurchsichtigen grünen Steinen und einen Nachttopf.
Jede Bewegung tat ihr weh, während sie ihr Kleid anzog. Auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnerte, musste sie es sich irgendwann abgestreift haben, um in den Schlaf der Erschöpfung zu fallen. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie es zuknöpfte. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten gelangte sie zum Deck. Wo waren sie jetzt? Sie schaute hinaus auf den See. Nichts als Nebel. Chicago – oder auch nur das Ufer – war nirgends zu sehen.
Noch immer schmerzte
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