Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Tage war durch die Jahreszeiten bestimmt worden. Von dem Tauwetter im Frühling bis zum Zufrieren des Sees Anfang Dezember arbeiteten sie Seite an Seite in einem Handelsposten, der die Familien in der kleinen Hafensiedlung mit allem Notwendigen versorgte. Die mühelose Vertrautheit ihrer Beziehung war Tom unendlich wichtig geworden.
Die Winter verbrachten sie auf dem Festland in Fraser, in der Gesellschaft des gebildeten, angesehenen Frère Henri. Der Trappistenmönch hatte seinerzeit Tom unterrichtet. So manchen kalten Winterabend hatte er zu Füßen des Mannes in der Kutte gesessen und Französisch gelernt, etwas über die faszinierende Welt der Mathematik erfahren und klassische Literatur kennengelernt. Der alte Kirchenmann hatte Asa ebenfalls Unterricht gegeben – aber dank Arthur Sinclair würde Asa nie wieder in diesen Genuss kommen.
„Und?“, hakte Deborah Sinclair nach, trommelte mit den Fingernägeln auf eine der Seekarten, die auf dem Tisch lagen. „Beenden Sie den Satz, bitte. Lightning Jack gehört dieser Kutter. Was ist mit Ihnen?“
Er nickte in Richtung der Zwiebackdose. Widerstrebend aß sie einen weiteren und spülte ihn mit einem Schluck Most hinunter.
„Ich war ein Fischer auf Isle Royale. Kennen Sie die Insel?“
„Ich habe sie auf einer Karte im Arbeitsz… auf einer Karte der Großen Seen gesehen. Ich habe mir immer eingebildet, dass der Lake Superior die Umrisse eines gewaltigen Drachenkopfes abbildet und Isle Royale das Auge ist.“
„Ich betreibe einen Handelsposten auf der Insel“, erklärte er. „Oder habe das bis vor Kurzem wenigstens getan.“ Nach der Tragödie war er wie erstarrt gewesen, hatte sich zwar mit Sorgfalt, aber ohne echte Hingabe um sein Geschäft gekümmert. Stunden hatte er damit verbracht, in seinem Fischerboot zu hocken und einen Grund zu finden, warum er zum Ufer zurückrudern sollte. Dann, als das Telegramm von der Versicherungsgesellschaft gekommen war, die Sinclairs Bergbaugesellschaft von jeglicher Verantwortung freigesprochen hatte, war die lähmende Trauer heißer Wut gewichen. Die Ungerechtigkeit hatte das Verlangen nach Rache in Toms Verstand gepflanzt. Er hatte darin die einzige Möglichkeit gesehen, nach Asas Verlust weiterleben zu können.
„Also behaupten Sie, mein Vater habe einen Mord begangen“, sagte sie. „Auf Isle Royale.“ Ehe er darauf etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: „Das war keine Frage. Ich habe nur das mir Bekannte zusammengefasst.“
„Das ist keine Behauptung von mir“, verbesserte er sie, „sondern eine Tatsache.“
„Dann tragen Sie die Tatsachen doch bei den zuständigen Behörden vor und überlassen den Rest dem Gesetz“, meinte sie sachlich. „Aber das wollen Sie nicht, oder? Weil Sie wissen, dass mein Vater nie auf Isle Royale war. Er hat niemanden umgebracht.“ Sie blickte ihn mit ihren blauen Augen direkt an, und wieder fühlte er sich eigentümlich berührt.
Sie war gerissener, als er ihr zugetraut hatte. Tom vermutete, es würde sie nicht wundern, wenn sie erfuhr, dass die Versicherungsgesellschaft entschieden hatte, die sieben Todesfälle seien tragische Unfälle gewesen. Und ebenso wenig, überlegte er zynisch, würde es sie erstaunen, wenn sie entdeckte, dass die Taschen des verantwortlichen Kommissars großzügig mit Sinclairs Geld gefüllt worden waren.
„Wie sind die Opfer gestorben?“ Vorsichtig wischte sie sich mit einem Finger über die Lippen und sah sich um.
Ihm war klar, sie suchte nach einer Serviette, aber er konnte ihr nichts anbieten, was er nicht besaß. „Bei einer Minenexplosion.“
Sie schloss die Augen und spitzte die Lippen, wirkte getroffen … oder tat zumindest so. Aber er wusste genau, dem war nicht so. Alles, was sie kümmerte, war von diesem Boot herunterzukommen.
„Es klingt ganz nach einem schrecklichen Unglück, nicht nach Mord“, stellte sie fest und öffnete die Augen wieder. „Mein Vater hat viele Feinde. Sie bringen die wildesten Anschuldigungen gegen ihn vor, aber das alles ist keine Entschuldigung für das, was Sie tun.“ Geistesabwesend strich sie dem Hund übers Fell und fügte hinzu: „Es ist nicht das erste Mal, dass ich entführt worden bin, wissen Sie?“
Das überraschte ihn. „Nicht?“
„Als ich wesentlich jünger war, hat mich ein Kriegsveteran bei einem Picknick mit meiner Gouvernante in Lincoln Park geschnappt.“ Sie nahm sich einen weiteren Zwieback, als hätte sie vergessen, dass sie sich eigentlich im Hungerstreik befand. „Er
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