Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
erleben. Wenigstens konnte man sich sicher sein, dass ein Abenteuer in einem Buch gut ausging.
Außer dass es natürlich einen gewissen Reiz hatte, einfach aufzubrechen in das Unbekannte. Sicher, sie war zerkratzt, verschwitzt und die meiste Zeit außer sich vor Angst, aber jedes Mal, wenn sie einen Schritt machte, jedes Mal, wenn sie einen Fuß vor den anderen setzte, verspürte sie ein Erfolgsgefühl, das sie beinahe jubeln ließ.
Als sie oben auf dem felsigen Hügel ankam, hätte sie am liebsten einen triumphierenden Freudenschrei ausgestoßen. Was sie dort aber erblickte, ließ sie verstummen.
Es war wunderschön. Mehr als wunderschön. Ein Staunen überkam sie. Fast konnte man meinen, man stünde auf dem Dach der Welt. Unter Deborah erstreckte sich die unberührte Wildnis der Insel gleich einem Teppich aus immergrünen Nadeln und sich verfärbenden Blättern. Hier und dort glitzerten die Seen im Inland wie Spiegel. Der Lake Superior, dessen Oberfläche in den Farben der untergehenden Sonne leuchtete, umarmte das Eiland, drang in die Buchten und Meeresarme. Die Landschaft war so beeindruckend schön, dass Deborah bei dem Anblick das Herz stockte.
Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit erfasste sie. Nie zuvor hatte sie sich so gefühlt, weil sie nicht geahnt hatte, dass es einen Ort wie diesen gab. Es war ein durchdringender Zauber, der sie in seinen Bann zog; die Aussicht auf das Wasser und die Bäume, die Geräusche des Windes und der Wildvögel übten eine überwältigende Faszination auf sie aus.
Die Farben allein raubten ihr den Atem. Der Himmel bei Sonnenuntergang, der blaue See, die Felsen in jeder Schattierung von Schwarz und Grau, eingerahmt von orangen Flechten. Es ist ein Ort voller Magie, dachte sie. Eine Insel so abgelegen, dass Deborah halb überzeugt war, der Rest der Welt existiere gar nicht mehr.
Aus irgendeinem Grund freute sie der Gedanke.
„Was tun Sie hier?“, rief eine raue Stimme verärgert.
Fast wäre Deborah gestolpert und gefallen. „Erschrecken Sie mich nicht so.“
„Dann folgen Sie mir nicht“, erwiderte Tom Silver.
„Dann erzählen Sie mir nicht schreckliche Sachen und gehen einfach weg, ohne sie zu erklären“, entgegnete sie.
Er stand in einem Fleck Sonnenschein. Hinter ihm lag eine breite Lichtung, allerdings mit Dornengestrüpp überwuchert. Er trug eine Hose aus grobem Stoff, ein schlichtes dunkles Hemd und keinen Hut. Der Wind spielte in seinen Haaren, und sie konnte die kleine umwickelte Locke mit der Adlerfeder sehen. Deborah hatte dasselbe seltsame Gefühl, als sie ihn anschaute, das sie auch beim Blick auf die majestätische Insel empfunden hatte. Wie die Insel war er nicht bedrohlich, sondern eindrucksvoll. Und verführerisch.
„Ich möchte, dass Sie mir von Ihrem Sohn erzählen“, fuhr sie fort, fügte dann hinzu: „Bitte.“
„Warum?“
„Weil ich es verstehen will.“
Er drehte sich auf dem Absatz um. „Kommen Sie mit.“
Wie gewohnt warf er keinen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass sie ihm gehorchte. Auch als sie ins Straucheln geriet und aufschrie, wandte er sich nicht um. Aber sie ärgerte sich nicht. Die Tatsache, dass er sein Kind verloren hatte, erklärte sein zorniges und barsches Auftreten.
Dornen und struppige Tannen zerrten an ihrer Kleidung, während sie ihm auf die Mitte der Lichtung folgte. Vor ihr lag eine tiefe mit Steinen eingefasste Grube. Verrußte Holzbalken bedeckten den Boden um die Vertiefung. Ein kleines Stück hinter der vernarbten Erde wuchs eine Reihe Rosen.
„Isle-Royale-Kupfer“, sagte Tom Silver und starrte in das Loch. „Es ist kein Erz, sondern reines Metall. Die Leute haben seit ewigen Zeiten versucht, es abzubauen, aber seit vor dem Krieg hatte es hier keinen Minenbetrieb mehr gegeben. Ihr Vater kam in dem Bestreben, hier rasch Geld zu verdienen.“
Sie hielt den Atem an, ahnte, was als Nächstes kommen würde. „Also hat er seine Bergbaugesellschaft geschickt.“
„Er ist nicht der Erste gewesen, und er wird auch nicht der Letzte gewesen sein, aber er wurde gierig. Er schickte seine Leute letzten Frühling her, um alles zu begutachten.“
„Dann ist mein Vater nicht persönlich verantwortlich.“
„Und so kann er mit sich leben? Indem er andere Männer dafür bezahlt, seine Arbeit für ihn zu erledigen? Seine Schuld zu übernehmen?“
Sie ließ die Schultern sinken. Silver hatte recht. Ihr Vater war verantwortlich, egal wie weit er von hier entfernt gewesen war, als das Unglück
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