Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
nicht.“
Alice zuckte mit den Achseln. „Hier auf der Insel kenne ich meinen Platz. Ich weiß, wo ich hingehöre. Wenn ich auf dem Festland bin, komme ich mir immer ein bisschen verloren vor.“
„Dann wissen Sie ja, wie ich mich auf der Insel hier fühle.“
Tom war sicher, dass der Nachmittag im Fischhaus Deborah vollends überfordern würde. Er war damit beschäftigt gewesen, ein paar neue Regale für den Laden zu bauen, aber er hielt immer mit einem Auge Ausschau nach seiner Geisel. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass sie zurückgerannt kam, entrüstet über die Zumutung echter Arbeit.
Eine Stunde verstrich, dann zwei, schließlich drei. Und immer noch konnte er sie nirgendwo entdecken. Er ertappte sich dabei, wie er betont gleichgültig auf dem Gehsteig entlangschlenderte, in der Hoffnung, einen Blick auf sie zu erhaschen. Unten am Dock wirkte das Fischhaus so wie immer, so wie an jedem Tag, an dem die kleine Flotte auslief. Männer schrubbten Boote, säuberten Netze. Andere brachten die in Eis gelegten Fische zu dem kleinen Lagerhaus, wo sie auf ihren Transport warteten. Ein paar Kinder liefen umher oder hockten auf dem Anlegesteg, um Stichlinge zu angeln.
Nach einer Weile gewann seine Neugier Oberhand. Er ging zum Fischhaus. Jens Eckel, ein Fischer, der vorhatte, sich nach dem Ende der Saison zur Ruhe zu setzen, saß auf einem Fass und rauchte Pfeife und stellte die gewohnten Fragen – Wie war der Wind? Wie viele Klafter tief waren die Fische gewesen? –, während die Frauen an den langen Tischen arbeiteten.
Im ersten Augenblick erkannte Tom Deborah nicht. Sie trug eine große Ölhautschürze und hohe Gummistiefel, hatte ein Tuch über ihre Haare gebunden. Ihre Arme waren bis zu den Ellbogen blutrot von Fischinnereien, und ihr Gesicht war papierbleich.
Gegen seinen Willen fühlte Tom etwas für sie. Mitleid, sagte er sich. Das war es. Mitleid und vielleicht auch eine gewisse Bewunderung. Er hatte sie aus dem Hause eines Millionärs auf eine einsame Insel verschleppt, in ein Fischhaus. Eine andere Frau hätte sich auf ihrem Bett zusammengerollt und sich der Verzweiflung überlassen. Stattdessen schien sie entschlossen zu beweisen, dass Arthur Sinclairs Tochter jeder Herausforderung gewachsen war. Sinclair verdiente sie nicht.
„Hey, Tom, was ist mir dir?“, fragte Jens mit seinem unterschwelligen norwegischen Akzent.
Deborah fuhr herum, sagte nichts und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit, als hätte sie ihn nicht gesehen.
„Ich dachte, ich kaufe mir einen Fisch zum Abendessen heute“, erwiderte er. „Sieht ganz so aus, als könntet ihr einen erübrigen.“
„Das stimmt allerdings“, pflichtete ihm Jens bei. „Bedien dich.“
Tom wählte absichtlich den Fisch, den Deborah eben gerade geputzt hatte. „Ich hoffe, Sie haben sich mit dem hier nicht angefreundet.“
„Warum sagen Sie das?“
„Weil es der Aussage, man habe einen Freund zum Abendessen da, eine ganz neue Bedeutung verleiht.“
„Ich werde nie wieder einen Bissen Fisch über meine Lippen bringen“, schwor sie.
„Das sagen zuerst alle. Darüber kommen Sie noch hinweg.“
„Bestimmt nicht. Das schwöre ich.“ Sie wandte sich ab und zog eine weitere Forelle aus dem Haufen.
Schmunzelnd verließ Tom das Fischhaus und kehrte nach einem Blick auf den See zum Laden zurück.
Es gab eine Wendung, die Deborah oft genug in ihrem Leben gehört hatte, aber nie darüber nachgedacht hatte, was eigentlich dahintersteckte. Erschöpft bis auf die Knochen. Arbeiter sagten das nach einem langen Tag in der Fabrik. Gelegentlich auch ein Reisender, der auf einer langen Zugreise aufgehalten worden war und erst spät sein Ziel erreichte. Alle, die lang und schwer arbeiteten, konnten es von sich behaupten. „Ich bin restlos erschöpft bis auf die Knochen“, erklärte Kathleen O’Leary immer. „Ich dachte schon, ich würde niemals mit dem Bügeln fertig werden.“
Jetzt, erst zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben, verstand Deborah endlich, was genau damit gemeint war. Bis auf die Knochen erschöpft zu sein hieß, man hatte so hart gearbeitet, dass das stundenlange Schuften sich schmerzhaft in den Schultern, im Nacken, Rücken, in den Beinen und Füßen bemerkbar machte – dass man bis in die Knochen spürte, wie zerschlagen man war. Gemeint war das dumpfe Dröhnen im Kopf, weil auch der Kopf selbst müde war. Deborah hatte keine Schmerzen an einer konkreten Stelle, obwohl sie sich mehrmals am Nachmittag geschnitten oder die
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