Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Avenue nicht der Fall gewesen war. Eine wahre Armee aus Kindermädchen, Gouvernanten und Lehrern hatte alle natürliche Lebensfreude, die sie besessen hatte, in würdevolle Zurückhaltung verwandelt. Manchmal fragte sie sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn ihre Mutter gelebt hätte. Hätten sie zusammen Drachen steigen lassen oder Blumen gepflückt? Hätte ihre Mutter dafür gesorgt, dass ihr Leben anders verlaufen wäre?
Sie blickte in den Herbsthimmel über der Insel, und einen flüchtigen Moment lang gelang es ihr, das schwache, unbeschreibliche Gefühl aus ihrer Kindheit zu empfinden, das ihr über jeden Zweifel hinweg bewies, dass sie eine Mutter gehabt hatte, die sie geliebt hatte. Die Erinnerung an diesen einen kostbaren Moment, die Stimme aus der Vergangenheit, rief ihr wieder ins Bewusstsein, was sie immer tief in ihrem Herzen gewusst hatte – wenn ihre Mutter nicht gestorben wäre, dann hätte ihr Leben ohne jeden Zweifel eine andere Wendung genommen.
Gütiger Himmel, wie sehr wünschte sie, ihre Mutter wäre noch am Leben. Sie brauchte jemanden mit genug Erfahrung und Weisheit, um ihr in ihrer Lage einen Rat erteilen zu können. Jemand, der sie genug liebte, um ehrlich mit ihr über die Dinge zu sprechen, die sie wie alle jungen Frauen beschäftigten. Wurde von einer Frau erwartet, dass sie stumm und mit zusammengebissenen Zähnen ergeben dalag, während ihr Ehemann sich gegen sie drängte, in sie stieß, wieder und wieder und dabei keuchte? Musste eine Frau das erdulden, Nacht über Nacht, alle Nächte ihrer Ehe lang?
So war es ja kein Wunder, dass nie jemand darüber redete. Kein Wunder, dass Kindern sofort heftig über den Mund gefahren wurde, wenn sie Fragen stellten zu Mann und Frau und dem, was verheiratete Menschen so taten.
Aber was war mit der Sehnsucht, die sie manchmal unerwartet überkam? Sie wünschte sich, geschätzt und gehalten zu werden, nicht für ihre Schönheit bewundert zu werden, sondern als Mensch geliebt. Sie konnte nicht anders, das Sehnen danach war zu stark. Und manchmal dachte sie auch, dass sie gerne ein Kind hätte. Aus keinem besonderen Grund glaubte sie, dass sie eine gute Mutter sein würde.
Der alte, tiefsitzende Schmerz des Verlustes hatte nun scharfe Kanten, weil sie jetzt das Gefühl hatte, auch ihren Vater verloren zu haben. Aber sich in Selbstmitleid zu ergehen, würde nichts lösen. Sie schaute zur Wiese und sah die Smith-Kinder mit ihrem Drachen und musste lächeln. Sie wollte lieber die Menschen in dieser neuen fremden Welt kennenlernen, statt über ihre Vergangenheit zu grübeln.
Henry Wick, der in den Gewässern von Isle Royale seit drei Jahrzehnten fischte, war einer der wenigen, die sich nicht von den verheißungsvollen Aussichten des Kupferabbaus hatten verführen lassen. Er hatte eine hervorragende Saison gehabt, besaß sein eigenes Boot und hatte es nicht nötig, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Die Tragödie hatte zwar auch die Familie Wick getroffen, aber nicht so tief verwundet wie die trauernden Eltern, Witwen und Waisen, für deren Schicksal die Gesellschaft ihres Vaters verantwortlich war. Wicks Ehefrau und Tochter waren gerade damit beschäftigt, den Fang zu säubern und auszunehmen. Die beiden Frauen wirkten freundlich, daher entschied sich Deborah, sie anzusprechen. Ihr Vater hatte sich von ihr losgesagt, aber auf gewisse Weise war das auch befreiend. Vielleicht sollte sie eine neue Beschäftigung erlernen, lernen, sich in der normalen Welt zurechtzufinden.
Während sie über die holperige Hauptstraße ging, band sie sich eine Schürze aus dem Laden um. Der Tag war schön, aber kalt, die Farben im Ahornwald hoch oben auf dem Hügelrücken leuchteten so bunt, dass es beinahe wehtat, sie anzusehen. Der See spiegelte das Tiefblau des Herbsthimmels. Deborah konnte sehen, wie sich die Landschaft veränderte. Die Blätter verfärbten sich, wurden schütter, bevor der Wind sie mit sich nahm. Der Nachmittagshimmel schien sich zu senken, vertiefte sich, während die Tage kürzer wurden. Die Vögel zogen in Richtung ihrer Winterquartiere, wo auch immer sie sich befanden. Der See selbst war seltsam – am Morgen war das Wasser in Bewegung, am späten Nachmittag beruhigte es sich und am Abend lag er glatt und still da. Überall waren Anzeichen des nahenden Winters erkennbar. Am Nordufer der Insel hatte das Zufrieren bereits eingesetzt. Die flacheren Gewässer würden am Ende eine dicke Eisbrücke zum Festland bilden.
Die Fischverarbeitung war in
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