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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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Wider streiten, aber es wird nie ein so stichhaltiges Argument geben, daß der Streit aufhört. Für jedes Argument gibt es ein Gegenargument. Deshalb können wir unmöglich wissen, was wir tun sollen. Also brauchen wir einen Propheten. Denn er weiß es.«
    »Du magst recht haben. Aber die Frage bleibt: Warum wißt ihr es nicht selber?«
    »Die Frage muß offenbleiben. Ich kann sie nicht beantworten.«
    »Ihr spaltet Atome, ihr schickt Menschen auf den Mond, ihr manipuliert Gene, aber ihr wißt nicht, wie der Mensch leben soll.«
    »So ist es.«
    »Warum ist das so? Was sagt Mutter Kultur dazu?«
    »Hm.« Ich schloß die Augen. Und nach ein oder zwei Minuten sagte ich: »Sie sagt, man kann über Dinge wie Atome, Raumfahrt und Gene zwar in gewissen Grenzen Bescheid wissen, aber wie der Mensch leben soll, kann man nicht mit derselben Sicherheit wissen. Ein solches Wissen ist nicht zugänglich, und deshalb haben wir es nicht.«
    »Aha. Und was sagst du selbst, nachdem du auf Mutter Kultur gehört hast?«
    »Ich muß sagen, daß ich in diesem Fall derselben Meinung bin. Ein auf Fakten beruhendes Wissen, wie der Mensch leben soll, gibt es nicht.«
    »Anders ausgedrückt, da es keine solchen Fakten gibt, könnt ihr bestenfalls eure eigenen Köpfe befragen. Und das tut ihr auch, wenn ihr über die Legalisierung von Drogen debattiert. Jede Seite versieht sich mit >vernünftigen< Argumenten, aber
    wenn ihr euch schließlich für eine Seite entscheidet, wißt ihr immer noch nicht, ob ihr das Richtige getan habt.«
    »So ist es. Es geht nicht darum, zu tun, was man sollte, weil man das gar nicht wissen kann. Es geht nur um eine Art Abstimmung.«
    »Und du bist absolut überzeugt, daß der Mensch nicht sicher wissen kann, wie er leben sollte.«
    »Absolut.«
    »Woher weißt du das so sicher?«
    »Keine Ahnung. Wissen, wie man leben sollte, das ... das kann man nicht wissen, wie man andere Dinge weiß. Wie gesagt, es gibt nirgendwo auf der Welt Fakten, auf die ein solches Wissen sich beziehen könnte.«
    »Hast du je nachgesehen?«
    Ich kicherte.
    »Hat je irgend jemand gesagt: >Gut, wir wissen all diese anderen Dinge, laß uns überlegen, ob wir nicht auch erfahren können, wie man leben soll.< Hat das je einer gesagt?«
    »Ich bezweifle es.«
    »Findest du das nicht seltsam? Schließlich handelt es sich dabei um das bei weitem wichtigste Problem, das die Menschheit zu lösen hat - und je zu lösen hatte man sollte also meinen, daß es eine ganze Wissenschaft gibt, die sich diesem Problem widmet. Statt dessen stellen wir fest, daß sich kein einziger von euch auch nur gefragt hat, ob irgendwo ein solches Wissen existiert.«
    »Wir wissen, daß es nicht existiert.«
    »Bevor ihr nachgesehen habt, meinst du.«
    »Richtig.«
    »Keine besonders wissenschaftliche Einstellung für ein wissenschaftlich so ambitioniertes Volk wie ihr es seid.«
    »Stimmt.«
    5
    »Wir wissen jetzt zwei sehr wichtige Dinge über den Menschen«, sagte Ismael, »zumindest laut dem Mythos der Nehmer. Erstens hat der Mensch einen Fehler, und zweitens weiß er nicht, wie er leben soll - und wird es nie wissen. Ich glaube, das eine hängt mit dem anderen zusammen.«
    »Ja. Wenn die Menschen wüßten, wie sie leben sollten, dann könnten sie auch mit dem Fehler umgehen, der ihnen angeboren ist. Ich meine, dieses Wissen würde einschließen, wie man mit so einem Fehler lebt, sonst wäre es ja nicht das, was wir suchen. Verstehst du mich?«
    »Ich glaube ja. Du sagst in anderen Worten, wenn ihr wüßtet, wie ihr leben solltet, könntet ihr den im Menschen angelegten Fehler beherrschen und ihr würdet auf der Welt nicht immer wieder dasselbe Chaos anrichten. Vielleicht sind die beiden Dinge in Wirklichkeit ein und dasselbe. Vielleicht besteht der Fehler des Menschen genau darin: daß er nicht weiß, wie er leben soll.«
    »Kein abwegiger Gedanke.«
    6
    »Wir kennen jetzt die wichtigsten Teile der Geschichte, mit der deine Kultur erklärt, warum die Welt genau so ist und nicht anders.
    Die Erde wurde dem Menschen anvertraut, auf daß er ein Paradies aus ihr mache, aber er ist damit immer wieder gescheitert, weil er nicht vollkommen ist. Vielleicht könnte er etwas dagegen tun, wenn er wüßte, wie er leben sollte, aber er weiß es nicht und wird es nie wissen, weil ein solches Wissen für ihn uner reichbar ist. Der Mensch mag also noch so hart arbeiten, um die Welt in ein Paradies zu verwandeln, er wird sie wahrscheinlich nur noch tiefer ins Unglück

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