Ismael
seine Kollegen auf der ganzen Welt genau, wovon er spricht, aber sie sind nicht so dumm, Mutter Kultur herauszufordern. Trotzdem: Wo vierzigtausend Menschen in einem Gebiet leben, das nur dreißigtausend ernähren kann, erweist man den Menschen keinen Dienst, wenn man Nahrungsmittel importiert, bis vierzigtausend Menschen davon leben können. Damit bewirkt man nur, daß der Hunger nie aufhört.«
»Stimmt. Aber trotzdem ist es schwer, tatenlos dazusitzen und zuzusehen, wie Menschen verhungern.«
Ismael ließ ein vulkanisches Rumpeln ertönen. »Wer redet denn von Dasitzen und Zusehen? Wer Nahrung importiert, kann auch Menschen exportieren, oder?«
»Mag sein.«
»Dann siedelt doch zehntausend Menschen in ein Land um, in dem es Nahrung im Überfluß gibt. Bringt sie nach Italien oder Hawaii, in die Schweiz, nach Nebraska, nach Oregon oder nach Wales.«
»Ich glaube nicht, daß dieser Vorschlag sich durchsetzen ließe.«
»Ihr spielt lieber den Menschenfreund und laßt zu, daß vierzigtausend Menschen am Rand des Hungertods leben.«
»Leider ist das wohl so.«
»Soviel zu den Segnungen eurer Kultur.«
7
»Ich habe dir ein Buch hingelegt, wie du siehst«, sagte Ismael.
Es handelte sich um Das große Buch der Indianer Amerikas.
»Da wir von Geburtenkontrolle und ähnlichem sprachen: Das Buch enthält vorne eine Karte der indianischen Stammesterritorien. Vielleicht kannst du damit etwas anfangen.« Ismael ließ mich die Karte eine Weile ansehen, dann fragte er, was ich davon hielte.
»Ich wußte gar nicht, daß es so viele verschiedene Völker gab.«
»Sie lebten nicht alle zur gleichen Zeit, aber doch die meisten. Ich bitte dich jetzt zu überlegen, durch was das Wachstum dieser Völker begrenzt wurde.«
»Inwiefern soll mir die Karte dabei helfen?«
»Sie soll dir zeigen, daß Amerika keineswegs ein leerer Kontinent war. Geburtenkontrolle war kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.«
»Gut.«
»Irgendeine Idee?«
»Du meinst aufgrund der Karte? Leider nein.«
»Dann sag mir eins: Was tun die Menschen deiner Kultur, wenn sie nicht mehr im übervölkerten Nordwesten leben wollen?«
»Ganz einfach: Sie ziehen um. Nach Arizona, New Mexico oder Colorado. In die großen Ebenen.«
»Und die Nehmer, die dort wohnen, heißen sie herzlich willkommen?«
»Überhaupt nicht. Sie kleben Aufkleber auf ihre Autos, auf denen steht: >Wenn euch das Schicksal New Mexicos am Herzen liegt, dann kehrt dorthin zurück, wo ihr herkommt.<«
»Und kehren sie zurück?«
»Im Gegenteil, es kommen immer mehr.«
»Warum werden die Nehmer der betroffenen Gebiete der
Menschenflut nicht Herr? Warum können sie das Bevölkerungswachstum im Nordwesten nicht begrenzen?«
»Ich weiß nicht, wie das möglich sein sollte.«
»In einem Teil eures Landes sprudelt eine Quelle, aber niemand schüttet sie zu, weil der Uberschuß in das weite Land im Westen abfließen kann.«
»Richtig.«
»Aber die Staaten haben doch alle Grenzen. Warum halten die Grenzen die Menschen nicht ab?«
»Weil sie nur gedachte Linien sind.«
»Genau. Wer Bürger von Arizona werden will, braucht nur diese gedachte Linie zu überqueren und sich in Arizona niederzulassen. Genau das war bei den Völkern der Lasser anders. Ihre Grenzen waren alles andere als nur gedacht, es waren kulturelle Grenzen. Wenn es den Navajo zu eng wurde, konnten sie nicht sagen: >Die Hopi haben noch eine Menge Platz, laßt uns zu ihnen gehen und Hopi werden.< Das wäre völlig undenkbar gewesen. Kurz gesagt, die New Yorker können ihre Bevölkerungsprobleme lösen, indem sie Bürger von Arizona werden, die Navajo konnten ihre Bevölkerungsprobleme nicht lösen, indem sie Hopi wurden. Keiner überquerte freiwillig kulturelle Grenzen.«
»Stimmt. Aber die Navajo konnten die Grenze zum Gebiet der Hopi überschreiten, ohne zugleich die kulturelle Grenze zu überqueren.«
»Du meinst, sie konnten das Gebiet der Hopi überfallen. Natürlich. Aber deshalb gilt trotzdem, was ich gesagt habe. Wer das Gebiet der Hopi betrat, mußte kein Formular ausfüllen, er wurde statt dessen umgebracht. Das funktionierte. Die Menschen hatten allen Grund, das Bevölkerungswachstum zu beschränken.«
»Das leuchtet mir ein.«
»Und sie taten das nicht zum Nutzen der Menschheit oder der Umwelt. Sie taten es, weil das leichter war, als gegen den Nachbarn in den Krieg zu ziehen. Natürlich gab es auch einige Stämme, die sich keine sonderliche Mühe gaben, ihr Wachstum zu begrenzen, weil sie keine Skrupel
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