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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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sie nicht mehr.«
    »Stimmt. Aber ich glaube nicht, daß die Menschen das tun werden.«
    Ismael zuckte die Schultern. »Dann tut es das Gesetz für sie. Wer nicht nach dem Gesetz leben will, wird eben überhaupt nicht leben. Man könnte das eine elementare Anwendung des Gesetzes nennen: Wer den Fortbestand der Lebensvielfalt bedroht, indem er gegen das Gesetz verstößt, vernichtet damit automatisch sich selbst.«
    »Das werden die Nehmer nie glauben.«
    »Das hat damit gar nichts zu tun. Du kannst genausogut sagen, daß der Flieger, der sich von einem Felsen stürzt, nicht an die Schwerkraft glaubt. Die Nehmer sind dabei, sich selbst zu vernichten, und wenn sie das getan haben, wird das Leben auf der Erde wieder ins Gleichgewicht kommen, und der Schaden, den ihr angerichtet habt, kann behoben werden.«
    »Ja.«
    »Andererseits glaube ich, daß du zu pessimistisch bist. Ich glaube, viele Menschen wissen, daß ihre Kultur ausgespielt hat, und sind bereit, sich etwas Neues anzuhören - sie wollen sogar etwas Neues hören, wie du.«
    »Ich hoffe, du hast recht.«
    9
    »Ich bin mit der Formulierung unseres Gesetzes noch nicht ganz zufrieden«, sagte ich.
    »Nein?«
    »Was wir ein Gesetz nennen, sind in Wirklichkeit drei Gesetze. Oder auf jeden Fall habe ich von drei Gesetzen gesprochen.«
    »Die drei Gesetze sind Ableitungen. Das Gesetz dahinter, nach dem du suchst, müßte etwa so lauten: >Keine Art darf alles Leben auf der Erde an sich reißen.<«
    »Ja, und das wird durch die Regeln des Wettbewerbs gewährleistet.«
    »Eine andere Formulierung des Gesetzes wäre: >Die Welt wurde nicht für eine einzige Art erschaffen.«
    »Ja, und der Mensch wurde nicht erschaffen, sie zu erobern und zu beherrschen.«
    »Das ist ein zu großer Sprung. Der Mythologie der Nehmer zufolge brauchte die Welt einen Herrscher, weil die Götter ein Chaos angerichtet hatten. Sie hatten einen Urwald geschaffen und anarchische Verhältnisse. Aber stimmt das denn?«
    »Nein, alles war bestens geordnet. Die Nehmer haben die Welt selbst in Unordnung gebracht.«
    »Das Gesetz reichte also vollkommen aus und reicht noch immer aus. Die Welt war für ihre Ordnung nicht auf den Menschen angewiesen.«
    »Richtig.«
    10
    »Die Menschen deiner Kultur halten geradezu fanatisch an der Sonderstellung des Menschen fest. Sie bilden sich hartnäckig ein, zwischen dem Menschen und dem Rest der Schöpfung bestehe eine große Kluft. Der Mythos von der menschlichen Überlegenheit rechtfertigt für sie, mit der Welt anzustellen, was sie wollen, genauso wie Hitler sich auf den Mythos von der Überlegenheit der Arier berief, um mit Europa zu tun, was er wollte. Aber der Mythos verschafft letzten Endes keine wirkliche Befriedigung. Die Nehmer sind einsame Menschen. Die Welt ist für sie Feindesland, und sie leben auf ihr wie eine Armee von Besatzern, von ihrer Umgebung entfremdet und isoliert aufgrund ihrer Einzigartigkeit.«
    »Stimmt. Aber worauf willst du hinaus?«
    Statt einer Antwort sagte Ismael: »Bei den Lassern sind Verbrechen, Geisteskrankheiten, Selbstmord und Suchtprobleme sehr selten. Wie erklärt Mutter Kultur das?«
    »Ich würde sagen, das ... Mutter Kultur sagt, das gibt es bei den Lassern nicht, weil sie so primitiv sind.«
    »Anders ausgedrückt, Verbrechen, Geisteskrankheiten, Selbstmord und Drogensucht sind die Kennzeichen einer fortschrittlichen Kultur.«
    »Genau. Natürlich sagt das keiner so, aber jeder weiß es. Diese Dinge sind der Preis des Fortschritts.«
    »Seit ungefähr hundert Jahren ist in deiner Kultur auch eine andere Theorie weit verbreitet, die fast genau das Gegenteil besagt. Die ganz anders erklärt, warum diese Dinge bei den Lassern selten sind.«
    Ich überlegte kurz. »Du meinst die Theorie vom edlen Wilden. Leider kenne ich sie nicht genau.«
    »Aber du hast eine ungefähre Vorstellung von ihr.«
    »Ja.«
    »Den anderen Menschen deiner Kultur geht es genauso - sie wissen nichts Genaues, haben aber eine ungefähre Vorstellung.«
    »Ja. Der Grundgedanke ist, daß Menschen, die in der Natur leben, oft edel sind. Weil sie die ganzen Sonnenuntergänge und Wirbelstürme erleben. Ich weiß nicht. Man kann nicht einen Sonnenuntergang ansehen und als nächstes den Wigwam des Nachbarn anzünden. Das Leben in der Natur stärkt die geistige Gesundheit.«
    »Das hast du gesagt, nicht ich.«
    »Ja. Was sagst du?«
    »Wir haben uns die Geschichte angesehen, die die Nehmer seit zehntausend Jahren auf der Erde aufführen. Auch die Lasser

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