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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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hatten, ihre Nachbarn zu bekriegen. Ich behaupte nicht, hier sei ein utopisches Friedensreich verwirklicht worden. In einer Welt, in der nicht überall der große Bruder per Monitor über Benehmen und Eigentum wacht, ist es ganz nützlich, als furchtlos und wild zu gelten - und einen solchen Ruf verschafft man sich nicht durch Protestschreiben an den Nachbarn. Die Nachbarn sollen genau wissen, was ihnen blüht, wenn sie ihr Wachstum nicht beschränken und nicht in ihrem eigenen Gebiet bleiben.«
    »Ja, das sehe ich ein. Sie kontrollierten sich gegenseitig.«
    »Aber nicht nur, indem sie undurchlässige territoriale Grenzen errichteten. Auch die kulturellen Grenzen waren undurchlässig. Überzählige Narraganset konnten nicht einfach ihre Sachen packen und nach Westen ziehen, um Cheyenne zu werden. Die Narraganset mußten bleiben, wo sie waren, und ihre Bevölkerung begrenzen.«
    »Ja. Auch in diesem Fall scheint Vielfalt besser zu funktionieren als Homogenität.«
    8
    »Als wir vor einer Woche über Gesetze sprachen, die das Leben der Menschen regeln«, sagte Ismael, »warst du der Meinung, es gäbe nur eine Art solcher Gesetze - solche, die man durch Abstimmung verändern kann. Glaubst du das immer noch? Kann man die Gesetze, die das Zusammenleben auf der Erde bestimmen, durch Abstimmung verändern?«
    »Nein. Aber sie gelten auch nicht absolut wie zum Beispiel die Gesetze der Aerodynamik. Man kann sie übertreten.«
    »Kann man nicht auch die Gesetze der Aerodynamik übertreten?«
    »Nein. Ein Flugzeug, das diesen Gesetzen nicht entspricht, fliegt nicht.«
    »Aber wenn du dich damit von einem Felsen stürzt, bleibst du doch eine Weile in der Luft.«
    »Eine Weile ja.«
    »Mit einer Zivilisation, die dem Gesetz des eingeschränkten Wettbewerbs nicht genügt, ist es genauso. Sie bleibt eine Weile in der Luft, dann stürzt sie mit großem Krach herunter. Steht nicht genau das auch den Menschen deiner Kultur bevor? Ein Absturz?«
    »Ja.«
    »Oder anders gesagt: Du glaubst doch, daß eine Art, die in ihrem Handeln gegen das Gesetz des eingeschränkten Wettbewerbs verstößt, schließlich das Leben auf der Erde zerstört, um selbst wachsen zu können?«
    »Ja.«
    »Was wissen wir jetzt also?«
    »Wir wissen jetzt mehr darüber, wie die Menschen leben sollten. Oder eigentlich leben müßten.«
    »Vor einer Woche hast du noch gesagt, so etwas könne man nicht wissen.«
    »Schon. Aber ...«
    »Ja?«
    »Ich verstehe nicht, wie ... Ich muß kurz überlegen.«
    »Laß dir Zeit.«
    »Ich verstehe nicht, wie man dieses Wissen verallgemeinern kann. Ich meine, ich verstehe nicht, wie man es auf alle möglichen konkreten Probleme anwenden kann.«
    »Sagen dir die Gesetze der Aerodynamik, wie man beschädigte Gene repariert?«
    »Nein.«
    »Zu was braucht man diese Gesetze dann?«
    »Man braucht sie, um ... Sie ermöglichen uns, zu fliegen.«
    »Das Gesetz, das wir formuliert haben, ermöglicht den Arten,
    einschließlich der des Menschen, zu leben und zu überleben. Es sagt dir nicht, ob Drogen legalisiert werden sollten oder nicht. Es sagt dir nicht, ob vorehelicher Geschlechtsverkehr gut oder schlecht ist. Es sagt dir nicht, ob die Todesstrafe abgeschafft werden sollte oder nicht. Aber es sagt dir, wie du leben mußt, wenn du nicht aussterben willst, und das ist das Wichtigste und Elementarste, was ein Lebewesen wissen muß.«
    »Stimmt. Trotzdem ...«
    »Ja?«
    »Trotzdem werden die Menschen meiner Kultur dieses Gesetz nicht hinnehmen.«
    »Du meinst, sie werden nicht glauben, was du hier in diesem Raum gelernt hast?«
    »Genau.«
    »Seien wir uns darüber im Klaren, was das bedeutet. Das Gesetz selbst wird davon nicht berührt. Es existiert und hat seinen Platz im Leben auf der Erde. Die Nehmer werden lediglich abstreiten, daß es für den Menschen gilt.«
    »Richtig.«
    »Das ist nicht weiter überraschend. Mutter Kultur konnte sich damit abfinden, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Sie konnte sich damit abfinden, daß der Mensch sich aus dem Urschleim entwickelte. Aber sie wird sich nie damit abfinden können, daß das Gesetz des friedlichen Zusammenlebens auch für den Menschen gelten soll. Das wäre ihr Ende.«
    »Was willst du damit sagen? Daß alles hoffnungslos ist?«
    »Überhaupt nicht. Mutter Kultur muß beiseite geschafft werden, wenn ihr überleben wollt, und das könnt nur ihr selbst tun. Mutter Kultur existiert nicht außerhalb eures Bewußtseins. Sobald ihr nicht mehr auf sie hört, existiert

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