Ismael
führen eine Geschichte auf. Ich meine nicht die Geschichte, die sie erzählen, sondern die Geschichte, die sie aufführen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wenn du dich unter den verschiedenen Völkern deiner Kultur umhörst, also etwa in China, Japan, Rußland, England oder
Indien, wird dir jedes Volk eine ganz andere Geschichte über sich erzählen, aber trotzdem führen alle dieselbe eine Geschichte auf, die Geschichte der Nehmer.«
»Ach so.«
»Dasselbe gilt für die Lasser. Die Buschmänner in Afrika, die Alawa von Australien, die Kreen-Akrore in Brasilien und die Navajo der Vereinigten Staaten würden dir jeweils eine andere Geschichte erzählen, aber auch sie führen alle dieselbe Geschichte auf, die Geschichte der Lasser.«
»Jetzt verstehe ich, worauf du hinauswillst. Nicht die Geschichte, die jemand erzählt, ist entscheidend, sondern die Art, in der man tatsächlich lebt.«
»Richtig. Die Geschichte, die die Nehmer hier seit zehntausend Jahren aufführen, ist nicht nur eine Katastrophe für die Menschheit und die ganze Welt, sie macht auch krank und unzufrieden. Sie ist eine größenwahnsinnige Phantasie und hat den Nehmern, zusammen mit ihrer Kultur, nur Habsucht, Grausamkeit, Geisteskrankheiten, Verbrechen und Drogensucht gebracht.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Die Geschichte, die die Lasser seit drei Millionen Jahren aufführen, ist dagegen keine Geschichte der Eroberung und Herrschaft. Wer sie aufführt, ist nicht mächtig, aber er lebt ein zufriedenes und sinnvolles Leben. Du merkst das, wenn du die Lasser aufsuchst. Es gibt bei ihnen nicht fortwährend Aufstände und Rebellionen, sie streiten nicht immer darüber, was erlaubt ist und was verboten, klagen einander nicht ständig an, falsch zu leben, leben nicht in Angst voreinander, werden nicht verrückt, weil ihnen ihr Leben leer und sinnlos scheint, brauchen sich nicht mit Drogen zu betäuben und die Zeit totzuschlagen, müssen nicht jede Woche eine neue Religion erfinden, um einen Halt zu haben, und brauchen nicht ständig nach etwas zu suchen, das sie tun oder an das sie glauben können, damit ihr Leben einen Sinn hat. Und - ich wiederhole es - das ist nicht so, weil sie in der Natur leben oder weil sie keine staatlichen Institutionen haben oder weil sie von Geburt an edel wären. Es ist so, weil sie eine Geschichte aufführen, die dem Menschen entspricht, eine Geschichte, die seit drei Millionen Jahren funktioniert und immer noch dort funktioniert, wo sie von den Nehmern noch nicht vernichtet wurde.«
»Das klingt wunderbar. Wann kommen wir zu dieser Geschichte?«
»Morgen. Zumindest fangen wir morgen damit an.«
Neun
1
Als ich am nächsten Tag kam, fand ich eine veränderte Situation vor: Ismael saß nicht mehr hinter der Glasscheibe, sondern auf meiner Seite; er hatte es sich auf einigen Kissen ein, zwei Meter vor meinem Sessel bequem gemacht. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie wichtig die Scheibe für unsere Beziehung geworden war; jetzt wurde mir offen gesagt ein bißchen flau im Magen. Ismaels Nähe und Masse brachten mich durcheinander, aber ich setzte mich, ohne länger als den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, und begrüßte ihn mit dem üblichen Kopfnicken. Auch er nickte, und ich bildete mir ein, in seinen Augen ein wachsames Mißtrauen zu sehen, als ob meine Nähe ihm nicht weniger zu schaffen machte als seine Nähe mir.
»Bevor wir fortfahren«, sagte Ismael, »möchte ich noch ein Mißverständnis ausräumen.« Er hielt einen Zeichenblock mit einer Zeichnung hoch.
»Keine besonders komplizierte Darstellung«, sagte er. »Sie zeigt die Geschichte der Lasser in ihrer zeitlichen Dauer.« »Aha.«
Ismael fügte der Zeichnung etwas hinzu und hielt den Block wieder hoch.
»Bei dieser Abzweigung um ungefähr 8000 v. Chr. beginnt die Geschichte der Nehmer.«
»Ja.«
»Und wofür steht der?«
Er zeigte mit der Spitze seines Bleistifts auf den Punkt, der das Jahr 8000 v. Chr. markierte.
»Für die landwirtschaftliche Revolution.«
»Hat diese Revolution an einem ganz bestimmten Zeitpunkt stattgefunden, oder zog sie sich über einen längeren Zeitraum hin?«
»Wahrscheinlich zog sie sich über einen längeren Zeitraum hin.«
»Wofür steht der Punkt dann?«
»Für den Anfang der Revolution.«
»Und wo soll ich den Punkt für das Ende der Revolution hinmachen?«
»Hm«, sagte ich einfältig. »Ich weiß nicht. Die Revolution wird schon einige tausend Jahre gedauert haben.«
»Welches Ereignis markiert ihr
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