Ismael

Ende?«
    »Ich weiß es wirklich nicht. Ich könnte kein bestimmtes Ereignis nennen.«
    »Kein Geistesblitz?«
    »Nein, ich weiß es wirklich nicht.«
    »Denke nach.«
    Ich dachte nach, und nach einer Weile sagte ich: »Also das ist ja seltsam. In der Schule lernt man das nämlich nicht. Ich erinnere mich noch an den Unterricht über die landwirtschaftliche Revolution, aber daran nicht.«
    »Weiter.«
    »Die landwirtschaftliche Revolution hat nie aufgehört, sie hat sich nur immer ausgebreitet. Sie breitet sich seit ihrem Beginn vor zehntausend Jahren ständig aus. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert hat sie sich in Nordamerika ausgebreitet, und heute tut sie das in Teilen Neuseelands, Afrikas und Südamerikas.«
    »Genau. Wie du siehst, ist eure landwirtschaftliche Revolution nicht wie der Trojanische Krieg ein abgeschlossenes Ereignis in der fernen Vergangenheit, das für unser Leben heute keine direkte Bedeutung mehr hat. Was die Bauern der Jungsteinzeit im Nahen Osten angefangen haben, wurde ohne Unterbrechung von einer Generation an die nächste weitergegeben, bis zum heutigen Tag. Das ganze riesige Gebäude eurer Zivilisation baut darauf auf.«
    »Das leuchtet mir ein.«
    »Du müßtest jetzt eigentlich verstehen, warum die Geschichte, die ihr euren Kindern über den Sinn der Welt, die Absichten der Götter in ihr und die Bestimmung des Menschen erzählt, für die Menschen deiner Kultur von so grundlegender Bedeutung ist.
    Sie ist das Manifest der Revolution, auf der eure Kultur aufbaut, die Quintessenz eurer revolutionären Lehren und der endgültige Ausdruck eurer revolutionären Gesinnung. Sie erklärt, warum die Revolution notwendig war und warum sie um jeden Preis fortgesetzt werden muß.«
    »Ja«, sagte ich, »das verstehe ich jetzt.«
    2
    »Vor ungefähr zweitausend Jahren«, fuhr Ismael fort, »ereignete sich in der Geschichte eurer Kultur etwas, das an Ironie seinesgleichen sucht. Die Nehmer - oder zumindest ein großer Teil von ihnen - begannen sich eine Geschichte zu erzählen, die sie als ihre eigene ausgaben und die ihnen voller geheimnisvoller Bedeutung schien. Sie übernahmen diese Geschichte von einem Volk der Nehmer im Nahen Osten, das die Geschichte seinerseits seit unzähligen Generationen seinen Kindern erzählt hatte - seit so vielen Generationen, daß die Geschichte auch für dieses Volk ein Geheimnis geworden war. Weißt du, warum?«
    »Warum sie ein Geheimnis geworden war? Nein.«
    »Weil die Menschen, die die Geschichte zum ersten Mal erzählten - also die Urahnen der Nehmer -, keine Nehmer waren, sondern Lasser.«
    Ich starrte ihn eine Weile verständnislos an. Dann bat ich ihn, das Ganze für mich noch einmal zu wiederholen.
    »Vor rund zweitausend Jahren machten die Nehmer sich eine Geschichte zu eigen, die viele Jahrhunderte zuvor bei den Lassern entstanden war.«
    »Aha. Wo liegt die Ironie?«
    »Die Ironie ist, daß die Lasser sich diese Geschichte ursprünglich über die Anfänge der Nehmer erzählten.«
    »Und?«
    »Die Nehmer eigneten sich eine Geschichte an, die die Lasser über die ersten Nehmer erzählten.« »Ich kapiere leider immer noch nicht.«
    »Was für eine Geschichte erzählt ein Volk der Lasser wohl über die ersten Nehmer?«
    »Gott, keine Ahnung.«
    Ismael musterte mich nachdenklich. »Du scheinst heute morgen deine Gehirnpillen vergessen zu haben. Aber egal, ich erzähle dir eine Geschichte, die ich mir selbst ausgedacht habe, dann verstehst du, was ich meine.«
    »Gut.«
    Ismael verlagerte das Gewicht seines gewaltigen Körpers auf den Kissen, und ich schloß unwillkürlich die Augen und dachte: Wenn jetzt ein Fremder zur Tür hereinkommen würde, was um Himmels willen würde er denken?
    3
    »Wer die Welt beherrschen will, muß über ein ganz besonderes Wissen verfügen«, sagte Ismael. »Das weißt du sicher.«
    »Ich habe offen gesagt noch nie darüber nachgedacht.«
    »Die Nehmer besitzen dieses Wissen natürlich - zumindest glauben sie das -, und sie sind mächtig stolz darauf. Es ist ein elementares Wissen, und wer die Welt beherrschen will, kann darauf nicht verzichten. Und was stellen die Nehmer fest, wenn sie zu den Lassern gehen?«
    »Ich verstehe deine Frage nicht.«
    »Sie stellen fest, daß die Lasser dieses Wissen nicht haben. Ist das nicht bemerkenswert?«
    »Bemerkenswert?«
    »Überlege. Die Nehmer wissen etwas, das ihnen ermöglicht, die Welt zu beherrschen, und die Lasser wissen es nicht, wie eure Missionare festgestellt haben, als sie