Isola - Roman
erinnert, dass wir den Mörder nicht nennen durften, wenn wir meinten, ihn erkannt zu haben, worauf ihn Elfe und Krys noch argwöhnischer beäugt hatten. Solo hatte sich wie immer im Hintergrund gehalten, aber wieder war er mir vorgekommen, als hätte er Kopfschmerzen. Alle paar Minuten hatte er sich die Finger an die Schläfen gepresst und Unmengen von Wasser getrunken. Irgendwann waren wir zurück in die Betten gegangen, in Gruppen. Darling hatte sich, nachdem sie mehrere Male auf der Toilette verschwunden war, ihr Bettzeug geschnappt und war damit abgezogen.
Ich hatte sie den Vormittag über nicht zu Gesicht bekommen, aber jetzt saß sie in der Kissenecke, die langen Beine ausgestreckt, und beobachtete Joker, der für Mephisto seine Gummipuppe tanzen ließ. Joker hielt Tante Käthe an einem Arm gepackt, während Mephisto aufgeregt um ihn herumsprang.
Plötzlich fing der Hund wie wild zu bellen an, machte einen Satz und biss Jokers Gummipuppe ins Bein, woraufhin Tante Käthe mit einem lauten Knall zerplatzte und Darling in schallendes Gelächter ausbrach.
»Tja«, bemerkte Joker trocken und sah zur Decke empor. »Das war Mord vor der Kamera, würde ich sagen. Was machen wir denn jetzt mit der Leiche, Herr Tempelhoff?«
Ich trat hinaus in den Garten, wo Milky in der Hängematte lag, die Elfe doch nicht am Strand, sondern zwischen zwei Orangenbäumen aufgehängt hatte. Milky spielte auf seinen Congas, aber als er mein Kommen bemerkte, hielt er jäh inne.
»Musst du dich so anschleichen?«, fragte er mit einem erschrockenen Grinsen. Lung, der in Sichtweite vor einem Mangobaum stand, fuhr herum, geschmeidig und angespannt zugleich.
Ich war enttäuscht, dass Solo nicht bei ihnen war. Er hatte sich den Tag über noch nicht blicken lassen, doch unsere Begegnung in der gestrigen Nacht lief wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, wieder und wieder. Seine geflüsterten Worte, sein liebevoller, erschrockener Blick und seine wie mühsam zurückgehaltene Geste. Mein Wunsch, mit ihm zu sprechen, wurde immer größer. Gestern Mittag waren es vor allem Fragen über ihn gewesen, die mir am Herzen gelegen hatten. Heute fühlte ich, dass ich ihm auch gerne etwas über mich erzählen wollte – ein Bedürfnis, das ich bis jetzt noch keinem Menschen gegenüber gehabt hatte.
Milky hatte wieder angefangen zu trommeln, aber ich war zu rastlos, ihm zuzuhören. Unruhig ging ich in den Schlafsaal, und als ich Pearls leeres Bett sah, seufzte ich. Wo sie jetzt wohl war? Hatte sie sich gefürchtet in ihrem Versteck? Freute sie sich auf ihren Freund, der sie zu Hause erwartete? Gab es diesen Freund überhaupt? Wir konnten erzählen, was wir wollten, wir konnten sein, wer wir wollten, in dieser Hinsicht gab es keine Regeln.
Aus Pearls Truhe lugte ein Zipfel des grünen Schals hervor, Elfe hatte sich letzte Nacht um ihre drei Inseldinge gekümmert. Jetzt lag sie auf dem Bett und las. Krys hatte sich unter ihrer Bettdecke vergraben und Moon hockte auf dem Fußboden. Sie hielt etwas in ihren Händen und sah mich aus ihren großen Augen an.
»Ich will sie begraben«, sagte sie.
Die tote Schildkröte war winzig, und als ich die glasigen, geöffneten Augen in ihrem verrunzelten Gesicht sah, musste ich an das tote Vogelbaby denken, das Neander vor ein paar Tagen im Wald gefunden hatte.
»Wo hast du sie her?«, fragte ich Moon.
»Geerbt.« Moon strich über den Panzer des Tieres. Er hatte die Farbe von getrocknetem Schlamm und die Muster, die ihn zierten, gleichmäßige Rechtecke, Kreise und wellenförmige Linien, waren von einem verwaschenen Blau und verblichenem Orange. Das Köpfchen war schwarz mit roten Flecken und ich wunderte mich, dass das tote Tier nicht den geringsten Geruch nach Verwesung ausströmte.
»Lua hat meiner Urgroßmutter gehört«, sagte Moon mit ihrer hohen Stimme. »Meine Urgroßmutter war Indianerin und hat Lua nach ihrem Tod meiner Großmutter vererbt, später bekam sie meine Mutter und dann ich. Lua ist an Altersschwäche gestorben, aber ich wollte sie nicht in Deutschland begraben. Ich finde, hier passt sie besser hin. Kommst du mit?«
Ich zögerte und sah zu Elfe, die ihr Märchenbuch zugeklappt hatte. »Meine Güte«, sagte sie. »Dann ist das Tier ja über hundert Jahre alt.«
»Lua ist hundertvierundfünfzig geworden«, sagte Moon. »Ein gutes Alter, um zu sterben. Wenn ich sie nicht durch den Zoll bekommen hätte, wäre ich nicht mit auf die Insel gekommen.« Sie küsste ihre tote Schildkröte auf den
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