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Isola - Roman

Isola - Roman

Titel: Isola - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Moon war hinter der Kapelle verschwunden und wir folgten ihr.
    Aus dem verwilderten, von Wurzeln und abgerissenen Pflanzen überwucherten Erdboden ragten Grabsteine, auf manchen waren sogar noch Schriftzüge zu erkennen, einzelne Buchstaben, an denen die Zeit gefressen hatte. Die Namen konnte man nicht mehr lesen.
    Hinter den Grabsteinen lag die Felsküste, das zweite Gesicht unserer Insel, und von hier aus konnte ich auch auf die kleine Bucht schauen, von der Neander gesprochen hatte. Ein schmaler Steinweg führte von der Kapelle aus dorthin. Die Bucht war von schroffen Felsen gesäumt und in ein paar Minuten würde der winzige, sichelförmige Strand wie ein Aquarium mit Meerwasser gefüllt sein. Links von der Bucht lag der Berg, den ich mit Neander bestiegen hatte. Aus der Nähe wirkte er noch massiger. Schwarz und hoch war er. Ganz unten im Berg sah ich eine kreisförmige Öffnung, die mir wie ein aufgesperrtes Maul vorkam und im oberen Teil, fast am Gipfel, klaffte ein vförmiger Spalt.
    »Wunderbar«, sagte Moon. »Das ist der richtige Ort für Lua.«
    Sie hielt die Schildkröte hoch in die Luft, als wollte sie ihr ein letztes Mal den Himmel zeigen. Dann fing sie mit ihren kleinen Kinderhänden an, ein Loch in die Erde zu graben.
    Ein Vogel für Neander, eine Schildkröte für Pearl, dachte ich, als wir zu viert um die kleine Grabstätte herumstanden, die Moon zur letzten Ruhestätte ihrer Familienschildkröte ernannt hatte.
    »Warum habt ihr mitgemacht?« Krys strich sich ihr rotes Haar hinter die Ohren. Sie musterte uns, skeptisch und nervös, und ihre Stimme zitterte. Sie sah blass aus, fast bleich, als ob die Sonne ihre Haut nicht erreichte.
    »Ich möchte Theater spielen«, entgegnete Elfe. »Klassisches Theater, ihr wisst schon, die großen tragischen Rollen. Und ich dachte, diese Insel könnte die ideale Bühne zum Üben sein. Dieser Ort hier ist jedenfalls fantastisch.«
    Elfe breitete ihre von Moskitos zerstochenen Arme aus, ging vor Moons kleinem Grabhügel in die Knie und stieß mit tragischem Gesichtsausdruck hervor: »Meine Ruhe ist hin, mein Herz ist schwer! Ich finde sie nimmer und nimmermehr! Wo ich ihn nicht hab, ist mir das Grab! Die ganze Welt ist mir vergällt! Mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt! Meine Ruhe ist hin, mein Herz ist schwer! Ich finde sie nimmer und nimmermehr!«
    Elfe hielt inne , vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann, laut zu schluchzen. Sie trug ein silbergraues Kleid aus leichtem, flatterigem Stoff, der ihren fülligen Körper umspielte, und die lilafarbenen Haare fielen wie ein Vorhang vor ihre Hände. Eine Sekunde später lachte sie uns Beifall heischend an. »Na, wie war ich?«
    »Nicht schlecht«, erwiderte Krys mit ihrem kalten Lächeln. »Aber für das Gretchen aus Faust würde dich höchstens ein Blinder besetzen. Dann schon eher für eine von Shakespeares Waldnymphen.«
    Elfe kicherte. Beleidigt schien sie über Krys’ Äußerung nicht zu sein. »Und du?«, fragte sie neugierig. »Warum bist du dabei? Spielst du auch Theater?«
    Krys schüttelte den Kopf. »Film«, sagte sie. »Ich will zum Film.«
    »Du könntest Draculas Verlobte spielen«, schlug Elfe vor. »Mina Murray, die Rolle wäre dir wie auf den Leib geschrieben.«
    Krys zuckte mit ihren dünnen Schultern.
    »Und du?« Elfe wandte sich an Moon, die gerade eine große weiße Blüte auf ihren kleinen Grabhügel legte. »Warum bist du mitgekommen?«
    Moon zupfte eine zweite Blüte von dem großen Strauch und steckte sie hinter ihr Ohr. Auf ihrer Glatze zeichneten sich winzige schwarze Stoppeln ab und noch immer trug sie ihr Nachthemd. Sie sah schön aus, auf ihre ganz besondere Weise. Ein wenig erinnerte sie mich an Sinéad O’Connor, die irische Sängerin, und ein bisschen an das kleine Mädchen aus Sterntaler, dem Märchen, das Elfe uns vorgelesen hatte.
    »Ich bin mitgekommen, weil ich meine Schildkröte begraben wollte«, sagte Moon.
    »Und du, Vera?«
    Ich sah in Elfes goldbraune Augen und dachte an Esperança. Ihr Foto schob sich vor Elfes Gesicht. Die Telefonnummer auf der Rückseite des Bildes konnte ich auswendig. Unzählige Male hatte ich sie im Geiste gewählt. Von Deutschland aus. Ich hatte versucht, mir vorzustellen, welche Stimme mir antworten würde, ich hatte mir Worte zurechtgelegt. Englische Worte. Portugiesisch konnte ich nicht. Nicht mehr.
    Ich hatte die Telefonnummer aus dem Internet, ein paar Klicks hatten genügt und ich hatte alle

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