Isolation
erwachte. Mitten im Raum erschien als Titel lediglich ein Symbol – sie durfte nie mehr sehen als unbedingt notwendig –, und er griff danach. Das Video blinkte, und auf einmal war der Raum voller Menschen, die mitten in der Bewegung verharrten: Männer und Frauen, viele von ihnen trugen Uniformen. Allerdings erkannte sie die Monturen nicht. Die Frauen waren Heron ähnlich – das gleiche schwarze Haar, die gleiche Augenform, die gleiche Skelettstruktur und Haut. Auf den zweiten Blick fiel ihr auf, dass ihr auch die Männer ähnelten. Dieses Erscheinungsbild hatte Heron bisher nur bei sich selbst und den anderen Spioninnen bemerkt. Sofort zog sie daraus den Schluss, es müsse sich um Theta-Partials handeln, doch sie verwarf die Annahme sogleich wieder. Die Bandbreite von Alter und Größe war zu groß. Sie konnten keine Partials sein. Wahrscheinlich waren es Menschen aus jener Gruppe, der die Partials nachgebildet waren. »Chinesen«, sagte sie. »In chinesischen Militäruniformen, und das bedeutet …« Sie betrachtete den Raum und schätzte die Positionen und Körperhaltungen ein. Schließlich deutete sie auf einen kahlköpfigen kleinen Mann. »Er ist der Anführer, und der Mann neben ihm ist sein Stellvertreter. Hinter ihm stehen drei Leibwächter. Sind das die Leute, gegen die wir kämpfen?«
Latimer legte den Kopf schief. »Ich wusste nicht, dass Sie das Video schon gesehen haben.«
»Ich habe es noch nicht gesehen«, widersprach Heron. »Aber es schien mir offensichtlich.«
»Offensichtlich.« Latimer lächelte leicht. »Was wissen Sie über den Isolationskrieg?«
»Das ist der Krieg, für den wir ausgebildet werden.«
»Und?«
»Das ist alles.«
»Offensichtlich«, wiederholte Latimer. »Sie haben noch nie im Leben einen Chinesen gesehen, Sie wissen nichts über den Krieg, erraten aber anhand eines einzigen Standbilds, wer sie sind und in welcher Verbindung Sie zu ihnen stehen. Sie besitzen eine scharfe Beobachtungsgabe.«
»Danke«, sagte sie noch einmal.
»Der Isolationskrieg ist ihre Schuld«, erklärte Latimer. »Natürlich sind sie nicht die einzigen Schuldigen, gewiss nicht, aber sie sind diejenigen, gegen die wir gerade kämpfen, und mehr müssen wir nicht wissen. Hätten sie uns einfach gegeben, was wir wollten, dann würde niemand mehr kämpfen.«
»Was wollen wir denn?«, fragte Heron. Die Ausbilder hatten sich über die Hintergründe des Kriegs stets ausgeschwiegen – genau wie über die Bedingungen auf der Welt. In der Trainingseinrichtung kannte sie sich hervorragend aus, doch darüber, was draußen lag, wusste sie so gut wie nichts. Da er gerade so redselig war, ergriff sie die Gelegenheit, so viel wie möglich zu erfahren.
»Wir wollen das, was jeder will«, antwortete Latimer. »Natürliche Ressourcen. Buchstäblich jeder will sie haben, aber es ist nicht genug für alle da. Damit Sie die Zusammenhänge verstehen, müssen wir ein Stück zurückspringen. Die wertvollste Ressource auf der Welt ist Energie. Dazu verwendet man schon lange Öl, und das Öl kommt vor allem aus dieser Gegend.« Er winkte, die Menschen verschwanden und wichen einem Menü, das Heron noch nie gesehen hatte. Sie hatte gerade genug Zeit, die Namen der Verzeichnisse zu lesen, ehe er eins öffnete und die Liste wieder verschwand: Australien, Bilder, Indonesien, Japan, Karten, NADI , Russland, Theta. Er wählte Karten aus und entschied sich für eine Weltkarte. Die sanft glühende dreidimensionale Darstellung füllte den ganzen Raum aus.
»Hier.« Er deutete auf einen gelben Fleck an einer Verbindungsstelle zweier Landmassen. »Dies ist der Nahe Osten.«
Heron hatte noch nie eine Weltkarte gesehen und sog die Informationen begierig auf. »Warum nennt man die Gegend den Nahen Osten?«
»Das spielt im Augenblick keine Rolle«, antwortete Latimer. »Jedenfalls ist alles weg. Eins dieser kleinen Länder griff ein anderes mit einer Nuklearwaffe an und löschte die ganze Region aus. Dort gibt es keine Menschen, keine Gebäude, kein Öl mehr. Im Grunde kommt Öl auf der ganzen Welt vor, aber der Nahe Osten war der Lieferant, der sich am ehesten anbot. Als dort Ladenschluss war, verwandelte sich die Welt in ein Rudel hungriger Wölfe. Jeder wollte sich von dem Rest so viel wie möglich unter den Nagel reißen. Russland schnappte sich Norwegen, Brasilien schnappte sich Venezuela. Diese Namen bedeuten Ihnen im Augenblick nichts, aber Sie werden die Einzelheiten später noch erfahren. Die Information, dass die
Weitere Kostenlose Bücher