Issilliba - Aaniya, das Mädchen, das mit den Fliegen sprechen konnte (German Edition)
gestern.
„Heute ist ein besonderer Tag für euch beide“, meinte er mit harter Stimme zu Aaniya und Goran gewandt und fuhr sich über seinen stoppeligen Bart. „Ich glaube nicht, dass ihr es verdient, aber ihr dürft heute Abend Merzoru bedienen. Das ist die größte Ehre, die es hier im Palast gibt.“
Für Aaniya und Goran hieß das, den ganzen Vor- und Nachmittag zu üben: Mit voll beladenen Speiseplatten und teuersten Karaffen, gefüllt mit dunkelrotem Wein, mussten sie unter Honans Aufsicht durch die Gänge huschen. Und das trotz Fußfesseln. Wenigstens mussten sie keine Tunika anziehen, sondern durften ihre Kleidung behalten, denn Merzoru liebte originalgetreue Kleinmenschen.
Endlich am Abend war es dann so weit. Aaniya und Goran standen in der Küche und warteten auf ihren Auftritt. Zunächst verschwand Honan, um dem obersten der Groglas die beiden Neuzugänge anzukündigen. Mit todernster Miene kehrte er bald darauf wieder zurück und winkte ihnen, ihm zu folgen.
Als Aaniya die große , kerzenbeleuchtete Halle betrat, in der Merzoru gewöhnlich seine Feiern abhielt, stockte ihr der Atem. Sie blieb stehen. So viele Groglas hatte sie nicht erwartet. Es mussten über hundert Riesen hier versammelt sein!
Ihr Blick schweifte nervös durch den riesigen Festraum. An den Wänden hingen kostbare Vorhänge und ewig hohe Säulen trugen eine kunstvoll bemalte Decke. Tische, so lang wie ihr gesamter Hof zu Hause, reihten sich parallel aneinander. Ganz hinten in der Halle standen quer ein etwas kleinerer, dafür aber goldener Tisch, und dahinter ein Thron aus reinem Bergkristall. Merzoru stand vor seinem prächtig glitzernden Herrscherstuhl. Er war größer und dicker als all die anderen Groglas, die Aaniya hier sehen konnte, und er trug keine Lederkleidung. Alles, was seinen massigen Körper bedeckte, war aus langhaarigem, schwarzem Fell gearbeitet: die Hose, die ärmellose Weste, der bodenlange Umhang. Die hornartige Erhebung auf Merzorus Stirn war so ausgeprägt, dass seine harten, grauen Augen aus zwei Schlitzen hervor stachen. Neben ihm saß seine Partnerin, Zirome. Sie war die erste weibliche Riesin, die Aaniya zu Gesicht bekam. Die Niwis aus ihrer Gruppe hatten ihr erklärt, wie selten Riesenfrauen waren und wie noch viel seltener Grogla-Kinder.
Zirome trug ein weißes Kleid. Eigentlich sah sie gar nicht so viel anders aus wie die Frauen in Issilliba. Sie war nur größer und trug diese runzlige Erhöhung zwischen ihren Augen.
Honan riss Aaniya aus ihren Beobachtungen. Er fasste sie und Goran am Arm und schob sie vor sich her - vorbei an den langen Tischen, an denen die vielen, vielen Riesen saßen und begierig auf das Festmahl warteten.
Unabwendbar zog das Klirren der Fußfesseln die Aufmerksamkeit aller versammelten Groglas auf sich, und es wurde totenstill in der Halle.
Vor Merzorus Tisch angekommen, machte Honan eine tiefe Verbeugung, während sich Aaniya und Goran auf die Knie fallen ließen, wie es ihnen zuvor beigebracht worden war.
„Majestät, ich habe die große Ehre, Euch die beiden Kleinmenschen vorzuführen, die von Euren Untertanen vor zwei Tagen am See Wagasi aufgegriffen wurden“, sagte Honan ehrfürchtig und richtete sich wieder auf.
„Ich will sie aus der Nähe sehen“, donnerte Merzorus raue Stimme durch den großen Raum. Er trat zu Zirome und geleitete sie näher. Aaniya schielte verstohlen zu den beiden Riesen hoch und stellte mit zitterndem Herzen fest, um wie viel vor allem Merzoru sie überragte.
„Steht auf!“, befahl er kurz.
Aaniya und Goran erhoben sich mit gesenktem Blick.
„Honan, ich bin sehr zufrieden mit dir “, sagte Merzoru, nachdem er Aaniya und Goran ausgiebig begutachtet hatte. „Du hast die beiden wohl erzogen. Ich hoffe deine Landsleute bereiten mir in der Zukunft genauso viel Freude wie du. Aber jetzt lasst uns feiern. Bringt die Speisen.“
„Sehr wohl, Majestät“, entgegnete Honan wieder mit einer tiefen Verbeugung. Schon wollte er sich umdrehen, da blieb er wie festgewurzelt stehen. Aaniya musterte ihn verwirrt. Honans Blick war auf Zirome gerichtet, besser gesagt auf ihr Handgelenk, an dem Aaniyas Schmuckspange im Licht der vielen Kerzen wie eine kleine echte Sonne orangegelb funkelte.
Xeras, der grüne Zauberstein
A uf Honans Gesicht spiegelten sich in kürzester Zeit eine unglaubliche Vielzahl an Gefühlen. Überraschung, Verwirrung, Erkenntnis, Wut und Trauer. Er schien urplötzlich aus einem tiefen Schlaf aufzuwachen. Aaniya
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