Ist Schon in Ordnung
und ich halte ihr die Zeitung hin. Sie nimmt sie nicht, sieht sie nicht, ihre Augen starren mich direkt an. Die Situation ist unangenehm.
»Was fällt dir eigentlich ein, zu spät zu kommen, wo du weißt, dass ich hier stehe und auf dich warte! Siehst du nicht, dass ich mich für dich schöngemacht habe?« Sie wirkt etwas angetrunken, aber sie kann sich noch keinen Schnaps genehmigt haben, es ist gerade mal halb sieben, trotzdem glänzen ihre Augen, und es sieht aus, als wäre ihr nicht sehr warm Ende Oktober in diesem Kleid. Sie steht da und friert und hat sich für mich herausgeputzt.
»Unterwegs ist was passiert, das musste ich zuerst regeln. Sie sind nicht die Einzige, die verärgert ist.«
»Die Einzige! Du dummer Junge! Du könntest alles haben! Verstehst du, was ich sage? Ich könnte alles tun, was du willst! Aber ich warte nicht, schon gar nicht auf einen Milchbubi wie dich!« Und dann verpasst sie mir eine Ohrfeige, ich kann mich nicht rechtzeitig wegducken, und es brennt, wie es lange nicht gebrannt hat. Ich gehe ein paar Schritte zurück, umklammere die Zeitung, die heute ziemlich dick ist, und schleudere sie ihr entgegen. Die Zeitung trifft sie dort, wo sie am empfindlichsten ist. Ob es wehtut, weiß ich nicht, aber sie zuckt zusammen, ihre Augen wechseln die Farbe, und ich sage leise:
»Du verdammtes Mistweib! Mach dass du reinkommst zu deinem Alten! Ich würde deine schrumplige Haut nicht anrühren, nicht für viel Geld!«
8
I n der ersten Stunde haben wir Französisch. Henrik muss laut die letzte Lektion vorlesen. Er sitzt ganz hinten. Er kann kein Französisch, kann es weder lesen noch schreiben, aber er kann gut nachahmen. Das kann er, und mit ein wenig Hilfe hat er sich durch zwei Jahre geblufft und nähert sich dem Abgrund. Müssen wir in Französisch ins Mündliche, ist er geliefert. Aber Starheim hört schlecht, er beugt sich vor, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen, die Augen auf Henriks Gesicht geheftet. Es hört sich französisch an, das schon. Alle können sehen, dass er nicht mitkriegt, was Henrik liest, aber es hört sich französisch an, und Henrik spricht mit dem ganzen Körper, also sieht es auch französisch aus. Henrik sagt eigentlich nichts, er plappert nur, aber Starheim ist eitel, keiner soll ihn dabei ertappen, wie er »wie bitte?« oder »he?« sagt, und er geht in die Offensive und sagt:
»Sehr schön, merci Henri. Dann kannst du jetzt weitermachen, Audun.«
Ich weiß nicht, wie weit Henrik nach Meinung Starheims gekommen ist, also wähle ich auf der Seite auf gut Glück eine Stelle aus und lese ab dort weiter. Henrik starrt mit steinernem Gesichtsausdruck vor sich hin, und Starheim verzieht keine Miene. Früher fand ich das witzig. Ich bin zu Hause den Text durchgegangen, ich verstehe, was ich lese, aber ich habe gewisse Schwierigkeiten mit der Aussprache,genug, dass Starheim erleichtert lächelt und sagen kann:
»Das klingt ja ganz ordentlich, Audun. Wenn du die Aussprache noch ein bisschen übst, schaffst du auch das Abitur.« Henrik platzt vor unterdrücktem Triumph, bald kann er sich nicht mehr beherrschen, sein Gesicht ist starr und verzweifelt, und seine Augen sind voller Lachtränen. Er gibt leise Laute von sich. Ein paar von uns schauen aus dem Fenster.
»Das glaube ich kaum«, sage ich so leise, dass nur die Umsitzenden es hören.
Auf dem Weg zum Schulhof sagt Arvid:
»Henrik hat schlechte Karten. Ich glaube nicht, dass die Beisitzer im mündlichen Abi genauso schwerhörig sind. Aber witzig ist es schon.«
»Ich kann nicht glauben, dass er sich das traut.«
»Tzz. Bist du sauer? Du konntest deine Sachen doch.«
»Nein, nein, ich bin nicht sauer. Ich bin nur etwas müde.« Ich schließe die Augen und sehe Frau Karlsen und ihr Gesicht, als ich ihr beim Zeitungaustragen begegnet bin. Arvid schlägt mir auf die Schulter, ich würde ihm gern von Frau Karlsen erzählen, aber das ist eine andere Welt.
»Hast du schon mal vom Stachanow-Preis gehört?«, fragt er. »Das ist ein Preis, den Stalin während des ersten Fünfjahresplans den fleißigsten Arbeitern verliehen hat. Er war benannt nach einem Typ, der ein echtes Arbeitstier war. Deine Chancen stehen nicht schlecht.«
Wir gehen zwischen den anderen Schülern hindurch über den Hof und stellen uns mit dem Rücken zur Sporthalle in die Sonne. Ich sehe mich um, dann gehe ich weiter um die Ecke, wo nur noch Bäume sind, und setze mich auf den Abhang vor dem Lehrerblock, hole eine Kippe ausder Tasche und
Weitere Kostenlose Bücher