Ist Schon in Ordnung
Lippen. Ich kann meinen Mund nicht spüren, aber es schmeckt nach Blut. Das Atmen tut weh, ich huste, und jemand hackt mir in den Brustkorb. Doles letzter Tritt war hart. Ich rapple mich hoch, stütze mich auf die Arme, was nur mit großer Mühe gelingt, sie sind ganz steif, und ich komme auf die Beine. Direkt vor mir sehe ich das Schild der Bowlinghalle. In der Halle ist es dunkel, aber das Schild leuchtet. Ich schaue zur Treppe. Dort steht meine Tasche. Ich gehe langsam hinüber und hebe sie auf. Das Bücken tut ebenfalls weh. Ich sehe mich um. Rund um die U-Bahn ist es vollkommen still. Wenn jemand gesehen hat, was passiert ist, hat er sich schnell davongemacht. Ich schaue ins Stationsgebäude. Der Schaffner sitzt da und löst Kreuzworträtsel. Er ist taub und blind. Wie er genug sehen kann, um Kreuzworträtsel zu lösen, weiß ich nicht. Er kann mich gernhaben.
So kann ich nicht nach Hause gehen. Dann wird meine Mutter hysterisch, sie wird nicht lockerlassen und versuchen, mich auszufragen. Das ertrage ich jetzt nicht. Ich drücke die Tasche fest an die Brust und spucke auf den Boden. Der Boden färbt sich rot. Ich berühre meinen Mund und merke, dass die Oberlippe ein einziger Brei ist. Hierfür brauche ich Hilfe. Ich gehe vorsichtig oben am Einkaufszentrum vorbei, dann am Hintereingang zur Kneipe hinunter zum Freizeitclub und zum Postamt. Halte ich den Rücken gerade, tut es in der Brust nicht so weh.
»Sollte mal was sein, weißt du ja, wo ich wohne«, hatte der alte Abrahamsen gesagt. Er wohnt in einer Dreizimmerwohnung am Ende des Veitvetsvingen in einem Reihenhaus. Ich nehme ihn beim Wort. Ich weiß nicht, was ich sonst tun sollte. Ich könnte zu Arvid gehen, aber ich habe ihn im letzten Monat kaum gesehen, und das würde zuviel Aufregung auslösen.
Ich bin in der Kurve im Veitvetsvingen. In der Straße parken überall Autos. Die Leute haben viel mehr Autos als früher, das sehe ich jetzt und denke ein bisschen darüber nach, ich huste so vorsichtig wie möglich und klingle am letzten Haus. Als die Klingel verstummt, wird es ganz still. Ich drehe mich um, will wissen, ob mich jemand sieht, aber es ist niemand draußen. In meiner Hose sind zwei Löcher, eins an jedem Knie, und die Lotsenjacke hat an der zweireihigen Vorderseite nur noch einen Knopf. Hinter der Tür sind Geräusche zu hören, dann geht sie auf, und der alte Abrahamsen schaut nur im Unterhemd heraus. Es ist sicher spät, ich schaue auf die Uhr, aber sie ist kaputt und steht auf zwanzig vor zwölf.
»Huch, du bist’s?« Er lächelt, ich versuche, sein Lächeln zu erwidern, aber es geht nicht, es tut zu weh, wenn ich die Lippen bewege. Er macht die Tür ganz auf, und das Licht aus dem Gang strömt nach draußen. Ich schließe die Augen.
»Verdammt, Audun, wie siehst du bloß aus? Komm mal rein.« Ich blinzle und versuche, seiner Aufforderung zu folgen, kriege aber das linke Bein nicht auf die Treppe. Es ist inzwischen steif. Er kommt heraus, stützt mich an der Schulter, und ich humple durch die Tür. Ich bin noch nie in seiner Wohnung gewesen. Ich hatte mir eine Alte-Leute-Wohnung mit Wachstüchern, Elchen im Sonnenuntergang,verschlissenen Wandleuchtern und ungespülten braunen Kaffeebechern vorgestellt. Aber alle Wände sind frisch gestrichen und voll mit Bildern und gerahmten Fotografien, und die Küche ist picobello. In der Stube gibt es mehrere Bilder und zwei Bücherregale, und an der Längswand hängt ein Zebrafell. Keins der Bilder ist aus Norwegen. Er sieht, was ich mir anschaue, und sagt:
»Ich war mal Seemann, wie du siehst. Das wusstest du nicht. Kannst du dich ausziehen?« Ich nicke. Ich kann, wenn ich muss.
»Du musst unter die Dusche, damit man sehen kann, was Rotz ist und was Bart.« Ich nicke noch einmal und fange an, mich auszuziehen. Jacke und Hemd gehen gut, aber die Hose schaffe ich nicht, etwas hackt mir in die Brust, wenn ich mich bücke. Ich sehe ihn an, mache eine bedauernde Armbewegung und schüttle den Kopf.
»Wenn es für dich in Ordnung ist, kann ich es machen«, sagt er, und ich nicke. Ist schon in Ordnung. Und der alte Abrahamsen geht auf die Knie und zieht mir Jeans und Stiefel aus. Er hat ganz graue Haare, aber sie sind alle noch da, die sehnigen Arme im Unterhemd machen sich an meinen Schnürsenkeln zu schaffen, er ist schnell, und die Muskeln schwellen friedlich an und wieder ab, es sieht schön aus, und ich denke: so auszusehen, wenn man über sechzig ist.
Er schiebt mich Richtung Badezimmer. Ich
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