Istanbul: Ein historischer Stadtführer
sie kam kummervoll und kniete nieder.
Die kleine Prostituierte erklärt, ein Priester habe sie verführt und auf den Abweg gebracht. Sie ist aber bereit zur Buße und vertauscht den Hurenpelz mit der Nonnentracht. Im Büro des erfolgreichen Retters gefallener Mädchen drängen sich von Stund an reuige Mädchen. Ein Istanbuler Bordell nach dem anderen muss seine Pforten schließen. Die Bekehrungserfolge gehen so weit, dass Alekos Kumpel aus unbeschwerten Tagen über ihn lästernd herfallen: «Monsieur Aleko, wir haben mitgekriegt, dass du Bordellchef geworden bist, Zunftmeister der Nutten und Boss aller Zuhälter.» Die Dialoge zu diesem Gegenstand fallen übrigens ganz witzig aus. Sozialgeschichtlich interessant sind die protokollartig abgefassten Lebensgeschichten der geretteten Mädchen.
Während Misailides’ Roman sicher nur die wenige Tausend Mitglieder zählende kleine Karamanli-Gemeinde erreichte, war Ahmed Râsims 1922, also im letzten Jahr des Sultanats erschienenes Buch über «Prostitution in alten Zeiten» ein Erfolg auf dem Buchmarkt. Diese unterhaltsame Sittengeschichte spiegelt mehr oder weniger genau die Verhältnisse um das Jahr 1880. Eine Episode ist der guten alten Einrichtung des «Stadtviertelüberfalls»
(Mahalle baskını)
gewidmet. Darunter verstand man nicht etwa den Überfall auf ein Stadtviertel, sondern die organisierte Zusammenrottung der sittenstrengen Bewohner des Viertels, meist unter Anführung des Vorbeters
(imâm)
, um das liederliche Treiben in einem Privathaus aufzudecken. In der Erzählung von Ahmed Râsim werden zwei Freunde auf der Galatabrücke von verschleierten Frauen in ein Haus im entfernten Sarıyer am Bosporus gelockt. Überzeugt davon, dass es sich um Damen der Oberschicht handelt, die ein kleines Abenteuer suchen, lassen sie sich zu Rakı und Meze nieder. Während der Erzähler nach dem dritten Glas eindämmert, kommt es zur Razzia:
Ich weiß nicht, was geschah, als die Razzia auf das Haus stattfand … Ich kam irgendwie wieder zu mir, und was sehe ich: der Raum ist voller Leute! … Mir gegenüber ein Bartmensch, ein, zwei junge Kerle mit weiten Bauernhosen,die eine Laterne halten … Sie lachten … Ich fragte: «Was geht hier vor?» Der Polizist sagte: «Wir haben Euch ausgehoben.» Ich kapierte immer noch nicht. Der Imam fuhr mir ins Wort: «Schluss mit deinem Gequatsche.» Tatsächlich hatte sich der Schlaf auf mein Gehirn ausgewirkt. Ganz plötzlich wurde ich wütend. «Der Quatsch, den du redest, ist schlimmer als meiner», rief ich und ging auf ihn los. Der Polizist hielt mich fest.
Der traurige Held und die beiden Frauen werden nun zur Wache gebracht, während sich sein Freund heimlich verdrückt hat. Sie müssen das Spalier der spöttischen Einwohner von Sarıyer passieren, alle Leute lehnen sich aus den Fenstern, die Frauen klatschen, man schlägt auf Blechkanister. Auf der Wache erfährt der Erzähler, dass die Damen polizeilich registrierte «Altware» sind, zwei Schwestern, von denen eine ihren Kahlkopf mit einer Perücke tarnt. Nachdem die Freunde die Nacht auf der lokalen Wache verbracht hatten, werden sie über mehrere Polizeistationen bis Galataserail gebracht. Der dortige Kommissar erklärt zwar, dass Razzien auf Wohnhäuser nicht mehr erlaubt seien. Aber die Dinge sind so weit fortgeschritten, dass dem Erzähler eine weitere Nacht in der Haftzelle nicht erspart bleibt.
Es gab keine andere Sitzgelegenheit als eine zerbrochene Bank … Und es stank … Abends wurde ein Betrunkener eingeliefert … Seinen ganzen Mageninhalt hat er entleert … Er hatte sich in einer Ecke ausgestreckt und geschlafen … Dunkelheit … Es gab kein Kerzenlicht noch Gas.! … Zum Glück dämmerte es und ich konnte ein wenig Helligkeit erkennen.
XXI.
Modernisierung und
gesellschaftlicher Wandel
Die Verwestlichung des städtischen Lebens setzte nach dem Krimkrieg (1853–1856) mit großer Geschwindigkeit ein. In Galata/Pera wurde 1858 eine moderne Stadtteilverwaltung geschaffen. Nach Pariser Vorbild zählte man sie als «Sechste» von 14 Arrondissements (
dâire
). Der Stadtrat setzte sich aus vom Sultan ausgewählten muslimischen und christlichen Persönlichkeiten zusammen, die sich energisch an die Modernisierung machten. Die Mauern von Galata wurden zum größten Teil abgerissen, die noch sichtbaren Gräben aufgefüllt. Der Galataturm als Erinnerung an die alte genuesische Stadt wurde allerdings verschont und sogar nach 1875 in historisierender Weise wieder
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