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Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Titel: Istanbul: Ein historischer Stadtführer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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Gespräch der Erwachsenen einmischen, bei ihnen gilt das im Gegenteil als Beweis großen Scharfsinns … Bei uns ist es um zwölf Uhr entweder Abend oder Morgen, bei ihnen ist es Mittag oder Mitternacht … Bei ihnen muss man ein Lied auf alle Fälle stehend, bei uns auf alle Fälle im Sitzen vortragen … Bei uns gelten blaue Augen als Anzeichen der Zwietracht und des Unglücks, bei ihnen sind sie so heilig, dass sie sich selbst die Engel blauäugig vorstellen … Wir schreiben von rechts nach links, die Franken von links nach rechts … In den westlichen Sprachen werden viele Buchstaben geschrieben, die man nicht liest, bei uns werden sie nicht geschrieben, aber gelesen … Wir schreiben das Datum ans Ende, sie an den Kopf eines Briefs … Bei uns ist Sich-Bescheiden eine Tugend, bei ihnen gilt sie als Trägheit … Bei uns ist es unschicklich, den Schnurrbart zu rasieren, bei ihnen nicht.
Die osmanischen Parlamente
    Die beiden Kammern des ersten osmanischen Parlaments traten 1876 in einem riesigen klassizistischen Bau zusammen, den Gaspare Fossati 1846 für die Universität neben der Aya Sofya entworfen hatte. Bereits 1877 machte aber Sultan Abdülhamîd II. von seinem Recht Gebrauch, die Abgeordneten in (unbefristete) Ferien zu schicken. Als er nach Jahrzehnten von den «Jungtürken» gezwungen wurde, ein neues Parlament einzuberufen, wurde das Gebäude bei der Aya Sofya für das erste Sitzungsjahr 1908/09 reaktiviert. Fossatis Bau wurde später vom Justizministerium genutzt, 1933 brannte er ab, wodurch die Fläche entstand, die den Blick auf das asiatische Ufer hinüber zur Selimiye-Kaserne ermöglicht.
    Nach dem Umzug des Parlaments ins Çırağan Sarayı und der Brandkatastrophe von 1910 behalf man sich mit den sogenannten Çifte Saraylar, einem zweiteiligen Uferpalais im Stadtteil Fındıklı. An dieser Stelle hatte Sultan Abdülmecîd für seine beiden Töchter Münîre und Cemîle zwischen 1859 und 1862 je einen Uferpalast bauen lassen. Heute werden beide Paläste von der Akademie der schönen Künste (jetzt eine Fakultät derMimar-Sinan-Universität) in Anspruch genommen, nachdem das Serail Münire Sultans vorübergehend als Sekundarschule für Mädchen (Atatürk Kız Lisesi) gedient hatte. Die Straßennamen Meclis-i Mebusan («Versammlung der Deputierten») und der sogar Taxifahrern geläufige Mebusan Yokuşu erinnern an das letzte Parlament, das sich 1920 auflöste, um sich in Ankara als «Große Türkische Nationalversammlung» neu zu konstituieren.
    Die osmanischen Kammern waren Vielvölkerparlamente, als Verhandlungssprache war jedoch Türkisch vorgeschrieben, das nicht alle Abgeordneten ausreichend, wenn überhaupt beherrschten. Hüseyin Câhid, ein führender Parlamentarier der Zeit, erinnerte sich an die Sitzungen nach der Wiedereinsetzung der Verfassung im Jahr 1908:
    Die arabischen Abgeordneten, die am meisten Lärm machten und versuchten, sich aufzuspielen, waren aus der syrischen und irakischen Bevölkerung. Die Abgeordneten aus dem Hedschas vermittelten mit ihrer stillen und ruhigen Haltung ein Gefühl von Würde. Bei den Jemeniten gab es mehr Herzlichkeit, sie konnten sowieso nicht recht gut Türkisch.
Ahmed Rızas Weltanschauung
    Nach der jungtürkischen Revolution hatte Ahmed Rıza das Amt des Parlamentspräsidenten inne. Der als «Vater der Freiheiten» gefeierte Ahmed Riza überwarf sich bald mit dem «Komitee für Einheit und Fortschritt», das anfangs vom fernen Saloniki aus die Istanbuler Politik dirigierte. Der 1858 geborene, inzwischen stark ergraute «Jungtürke» hatte in Frankreich Landwirtschaft studiert. Nach wenigen Berufsjahren in der Türkei (1884–1889) kehrte er nach Paris zurück, um an den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der Französischen Revolution teilzunehmen. Aus diesem Besuch wurde ein fast zwanzigjähriges Exil. Im Gegensatz zu anderen Oppositionsgruppen, allen voran den Armeniern, die auf eine Intervention der Großmächte setzten, um Abdülhamîd II. zu stürzen, hoffte er auf den Widerstand der Armee und der Intellektuellen.
    Nach außen hin ein Verfechter der islamischen Religion und Lebensführung, war Ahmed Rıza, wie seine Korrespondenzen verraten, ein vom französischen Positivismus geprägter biologischer Materialist. Ein 1885 in Paris verfasster Brief an seine Schwester Fâhire spiegelt seine und die von vielen Intellektuellen am Vorabend der Republik vertretene Weltanschauung:
    Obwohl die Araber viele berühmte Gelehrte auf dem Gebiet der

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