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Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Titel: Istanbul: Ein historischer Stadtführer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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Geometrie, Algebra, Astronomie, Geographie und Medizin zur Zeit des Propheten Muhammad (!) und seiner Nachfolger hervorgebracht haben, ist die Gemeinde von Muhammad 1000 Jahre später so tief gefallen, dass sie für dreieinhalb
Kuruş
beim Gehilfen des (griechischen) Krämers Georgios anschreiben lässt. Wir verdanken dies unseren verdammten, unwissenden Vorbetern und Theologen, die das Wort Gottes verdreht haben und behaupten, dass er mit dem Wort «Wissenschaft» allein die Lektüre des Korans gemeint habe … Aus diesem Grund liest niemand die Werke westlicher Wissenschaftler … Heute haben die Muslime das Niveau der Juden erreicht. Wenn du mich nach meiner Meinung fragst: Hinsichtlich Erziehung und Bildung ist ihr Niveau unter dem der Juden. Die Gemeinde der Gläubigen hat sich aufgelöst, sie ist geschwächt und wird sich nie wieder erheben und lebendig werden. Diejenigen, die an ein Paradies mit Huris, kühlem Scherbet und Wasserläufen glauben, werden immer weniger.
    Nach dieser radikalen Zurückweisung des islamischen Vermächtnisses, berührt Ahmed Rıza den empfindlichsten Punkt der traditionellen Gesellschaftsordnung:
    Wäre ich eine Frau, würde ich mich dem Atheismus zuwenden und niemals Muslimin sein. Man stelle sich eine Religion vor, die nur Männern Vorteile bringt, aber nachteilig für Frauen ist, die es meinem Gatten erlaubt, drei weitere Frauen und eine unbeschränkte Zahl von Konkubinen zu nehmen, den im Himmel Huris erwarten, während ich Haupt und Gesicht verdecken muss wie der Gaul eines Müllers …
    Er gesteht, dass er immer dann, wenn das Gespräch auf die Religion kommt, die Selbstbeherrschung verliere. Der Schlusssatz enthält einen Trost: «Meine liebe Fâhire, die Zeiten ändern sich. Wie immer, wir sind entweder zu früh geboren oder in dem (falschen) unglücklichen Land.» Ahmed Rıza musste nach der Kapitulation des Osmanenstaats im Weltkrieg die Türkei verlassen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Vaniköy am Bosporus als Bürger von Atatürks Republik (1926–1930).
Turhan Bey dreht durch
    Die Oberflächlichkeit der Verwestlichung einer bestimmten, sich als «Elite» verstehenden Schicht ging in den letzten Jahren des Reichs so weit, dass Cemil Meriç, ein republikanischer Publizist, die «Okzidentalisierten»mit den Worten geißelte: «Unser Europa bestand aus der
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, es war ein Kontinent ohne Abgründe, ohne Widersprüche und eindimensional. In unserer Geographie kam nur ein Kontinent vor, in unseren Köpfen nur die westliche Welthälfte. Jeder von uns war ein Türkisch sprechender Franzose.»
    Der Schriftsteller und ehemalige Konsularbeamte Ahmed Hikmet war als Zeitgenosse ein scharfer Kritiker der westlichen Lebensweisen und des neuen Habitus der Stadt. In einem kleinen Roman «Wie Turhan Bey den Verstand verlor» schildert er die Leiden eines idealistischen jungen Tataren, der mit den größten Erwartungen aus Russland in die Hauptstadt des Kalifats und Sultanats gekommen war. Seine Enttäuschung über die Lethargie der Patrioten, das vielsprachige Treiben in den Straßen und die Bevorzugung von «Hutträgern» (also Nichtmuslimen) nimmt von Tag zu Tag zu.
    Er erkannte bei denen, die seine Gedanken teilten, keine Begeisterung. Selbst die Eifrigen unter ihnen fanden sein Feuer gefährlich und schädlich und pflegten zu sagen: «Die Zeit ist noch nicht reif dafür.» Nun schäumte er gegen alles, was ihm begegnete. Er empörte sich über die Abwicklung der Geschäfte in den Banken und Firmen auf Französisch, das rasche und abgehackte Deutsch der Offiziere, das englische Gehabe der Marineoffiziere, die persischen Litaneien der Derwischerien, die arabischen Gebete in den Moscheen. Er machte folgende Beobachtung: In dieser türkischen Hauptstadt fand ein Türke, der ausschließlich Türkisch sprach, keine Arbeit in der Welt des Handels, er blieb hungrig. Ein Ausländer aber, der nur Französisch konnte, hatte stets Erfolg und lebte behaglich.
    Turhan löste am Ende seine Verlobung mit seiner Braut Zehra, weil sie ihre Hochzeitsausstattung statt in einem Traditionsladen in einem nichtmuslimischen Kaufhaus in Beyoğlu bestellt. Am Ende stürzt sich Turhan vom Minarett der Moschee Selîms I., dessen Erbauer sein großes Vorbild war. Bevor ihn die Hoffnungslosigkeit überwältigte, hatte Turhan das Projekt eines anderen Istanbul entworfen.
    Istanbul werde ich zum vorbildlichsten Ort der islamischen Kultur machen. Ich werde über die Hauptstadt einen

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