Istanbul: Ein historischer Stadtführer
noch die Teppiche und Deckengehänge. Die betrunkenen Schufte suchten unterwegs Leute, denen sie die geplünderte Ware zu einem ganz geringen Preis verkaufen konnten.
Der Alltag eines Istanbuler Bourgeois im Zeitalter Abdülhamîds II.
Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich der Habitus der Stadt vielfach gewandelt und mit ihm der Lebensstil der Elite. Die Großwesire hatten ihre Wohnsitze hinüber in die modernen Stadtteile von Şişli oder Ayaspaşa/Cihangir verlegt. Aber immer noch bot die alte Innenstadt bequeme Wohnmöglichkeiten. Im Nachlass eines hohen Beamten namens Sa‘îd Bey, der um die Jahrhundertwende im Stadtteil Aksaray lebte, fanden sich sorgfältige Aufzeichnungen über seinen Alltag und die damit verbundenen Einnahmen und Ausgaben. Sie erlauben einen ungewöhnlichen scharfen Einblick in die Verhältnisse der wohlhabenden Istanbuler Bourgeoisie der Epoche.
Sa‘îd hatte einen Schatzminister von Sultan Abdülhamîd II. zum Vater und war damit der Sohn eines Paschas. Wir kennen weder das Geburtsnoch das Sterbejahr von Sa‘îd Bey. Auch hat sich seine genaue Wohnadresse nicht ermitteln lassen. Es steht lediglich fest, dass er das Galataserail absolviert hatte, dank seiner Französischkenntnisse dem Palast als Übersetzer zur Verfügung stand, Mitglied des Obersten Sanitätsrats war und an zwei höheren Lehranstalten Französisch unterrichtete. Die Kumulation mehrerer Beamtenstellen war in der alten Türkei durchaus nicht ungewöhnlich. Für Sa‘îd Bey waren die Einkünfte Voraussetzung für einen Lebensstil
comme il faut
, auch wenn er keine besonderen Vermögenswerte sein Eigen nannte. Im Gegensatz zu den aus der türkischen Erzählliteratur der Epoche bekannten Dandyfiguren war Sa‘îd Bey ein guter Haushälter – ohne diese Eigenschaft hätte er sicher nicht die sorgfältigen Eintragungen in die vorgedruckten Almanache der Marke
Hachette
durchgehalten.
Die Hefte aus den Jahren 1901, 1904, 1906 und 1909 bilden nicht nur aufschlussreiche Rechenwerke, sie zeigen auch, wie Sa‘îd Bey sein Leben gestaltete. Er lebte mit Frau und Kindern im Zentrum des alten Istanbul. Sein Haus war an die städtische Wasser- und Gasversorgung angeschlossen, seit 1906 scheint er Elektrizität bezogen zu haben. Das Paar hatte vier Kinder, von denen ein Mädchen im August dieses Jahres starb, kurz danach kam ein Junge zur Welt, den man nach dem Pascha-Großvater Hakkınannte. Als die ältere Tochter mit dem prätentiösen Namen Semiramis 1908 heiratete, wurde der Schwiegersohn in den Haushalt aufgenommen. Interessanterweise lebte die Schwiegermutter Sa‘îd Beys getrennt von der Familie, auch wenn dieser für ihre Miete aufkam. Selbstverständlich war das Haus in einen öffentlichen und privaten Bereich aufgeteilt. Im
Haremlik
hat sich Sa‘îd Bey tagsüber kaum, abends nur selten aufgehalten.
Die Ausgaben für Personal waren deutlich höher als in vergleichbaren gutgestellten europäischen Verhältnissen. Sa‘îd Bey und seine Frau kommandierten über einen Kutscher, einen Koch und seinen Lehrling und einen Gärtner. Genannt werden darüber hinaus eine Gouvernante
(matmazel)
und ein oder mehrere Dienstmädchen. Die Kosten für Pferd und Wagen waren einer der größeren Posten des Familienbudgets, auch wenn der Kutscher im Jahr nur 2400
Kuruş
ausgezahlt bekam.
Wie alle Angehörigen der Istanbuler Oberschicht verbrachte Sa‘îds Familie die Sommermonate am Bosporus oder auf einer der Prinzeninseln. Man mietete Villen für die ganze, von April bis Anfang Oktober reichende Saison. Sa‘îd Bey hatte keinen festen Sommersitz. Wir sehen ihn 1901 in Çiftehavuzlar, einem Viertel, das man heute auf beiden Seiten der belebten Bağdat Caddesi in Kadiköy kaum wiedererkennt, in Fenerbahçe und in mindestens drei Jahren auf einer der Inseln. Die Miete kostete fast ein Monatsgehalt. 1908, im Jahr der Juni-Revolution, bei der sein oberster Dienstherr Abdülhamîd II. entmachtet wurde, scheint die Sommerfrische ausgefallen zu sein!
Man darf sich Sa‘îd Bey nicht als Pfennigfuchser vorstellen, der jeden
Kuruş
umdrehte, bevor er sich ein Vergnügen gönnte. Eine typische Woche im Februar des Jahres 1902 enthielt folgende Unterhaltungselemente:
Montag, 11.
Mittagessen im Basar – Einnehmen einer Süßspeise (
muhallebi
); Wasserpfeife in Direklerarası; abends Besuch von Nachbarn; Aufführung eines Märchenerzählers (
meddâh
)
Dienstag, 12.
Mittagessen bei Yani (eine
Brasserie Viennoise
in der Grande Rue de Péra);
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