Istanbul: Ein historischer Stadtführer
Wellen wie wahnsinnig Verliebte, ihrer selbst sich nicht bewußt, von Stein zu Stein fallen und dahinfließen, schafft solche Lichtreflexe, daß der Blick des Beschauers in dem einen Augenblick schimmerndes Quecksilber und im nächsten schon einen dunklen Strudel zu sehen glaubt und der Betrachter vor Staunen sich nicht leicht fassen kann. Es ist eine wahre Herzensfreude, wie diese leuchtenden Wellen einander folgen, um sich zu zerschellen. Eine Welle folgt der andern und keine kann hinter den freudigen Ereignissen zurückbleiben.
Nach einem langen Tag im Freien trat man die die Rückfahrt zu Wasser oder zu Lande an:
Die Heimkehr im Ruderboot ist sehr angenehm. Kaum ist ein jeder in sein
Kayık
eingestiegen, so beginnt das Tal vom Boot aus zu verschwinden. Manchmal drängen sich die Boote so dicht zusammen, daß die Ruder gar nicht in Bewegung treten können. In manchen Booten befinden sich Sänger mit anmutiger Stimme, in manchen anderen nimmst du ein ganzes Orchester wahr, in manchen anderen wiederum bemerkst du Kokettieren und leises Geflüster, so verstohlen, daß nicht jedermann es verstehen kann.
Nach jahrzehntelanger Vernachlässigung wird das Tal von Kağıdhâne wieder in ein Erholungsgebiet verwandelt. Auf Satellitenbildern kann man den Fortschritt der Begrünung bereits erkennen. Größere grüne Flecken gibt es sonst nur am Bosporus, vor der Landmauer und an der Serailspitze.
Eine Neuerung: Öffentliche Gärten
Zu den ersten Nachrichten über öffentliche Gärten, die zunehmend die traditionellen Ausflugsorte ersetzen, gehört eine Notiz von Ahmed Râsim über eine Aktivität im Vorort Makriköy. Das heutige Bakırköy lag seit den 1870er Jahren an der Vorortbahn nach Halkalı und wurde überwiegend, aber nicht ausschließlich von Nichtmuslimen bewohnt. Für einen wohl kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert entstandenen Park wurde ein Pächter gesucht. Ahmed Râsim beschreibt das Problem in einem Zeitungsartikel:
Da ich in Makriköy wohne, kenne ich mich in den kommunalen Angelegenheiten dieses Dorfs ziemlich gut aus. Der ehemalige Gemeindevorsteher hatte hier unter riesigen Anstrengungen und Schwierigkeiten einen Garten angelegt, Bäume und Blumen gepflanzt. Gräser und Rasen begannen zu sprießen. Ein von ihm als
Lac
(franz. See) bezeichnetes großes Becken wurde geschaffen. Eine Maschine, die es mit Wasser speist, wurde am vorgesehenen Ort installiert. Der Garten wurde in Frauen- und Männergebiete aufgeteilt. Am Ende stellte sich die Frage nach einem Pächter, den man endlich (durch eine Art Ausschreibung) fand … Ein einziges Problem blieb offen: Sollte man die Erlaubnis zum Ausschank von Bier erteilen oder nicht? Zwei Anlieger erhoben Einspruch. Die Polizeibehörde teilte mit: Von uns aus gibt es keinen Widerstand (gegen den Bierausschank). Ein Gartenbetrieb rentiert sich nicht mit Kaffee allein. Erneut wird man bei der Kommune vorstellig und erhält zur Antwort «Wir werden die Dinge schon in Ordnung bringen!»
Aus dem Artikel wird deutlich, dass ein öffentlicher Garten ohne separate Bereiche für Männer und Frauen, jedenfalls außerhalb von Pera/Beyoğlu, schwer vorstellbar war und dass der Ausschank von Alkohol unter freiem Himmel nicht für alle Istanbuler eine wünschenswerte Innovation war. Im Herbst 1913, ein Jahr vor dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Weltkrieg, legte Dr. Cemîl Pascha (später Topuzlu), der um Istanbul hochverdiente Bürgermeister, vor der Stadtverordnetenversammlung einen Rechenschaftsbericht über seine bisherige Tätigkeit als Stadtoberhaupt ab. Er musste eine riesige Haushaltslücke kommentieren. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen um das Doppelte. Wenn man einen Blick auf die Hauptstädte der benachbarten Balkanstaaten werfe, sehe man, dass pro Kopf mindestens zwei
Lira
an Steuern anfielen. Istanbul, mit einer Million Einwohner, könne hingegen kaum mit insgesamt 113.000
Lira
rechnen.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert habe sich die Innenstadt stark gewandelt. Die Preise von Grund und Boden seien gestiegen, zahlreiche Gärten wurden mit Wohnhäusern überbaut. Als Mediziner waren für Dr. Cemîl hygienische Maßnahmen vorrangig. Einen längeren Teil seiner Ansprache widmete er dem Gülhâne Park und den öffentlichen Gärten im Allgemeinen. Er erinnerte daran, dass es in Istanbul einst große Palais (
konak
) und große Gärten gab. Durch das Bevölkerungswachstum wurden die alten, von Gärten umgebenen Häuser durch enge und finstere Häuser
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