Istanbul: Ein historischer Stadtführer
legte zu Händen des Scheichs Süleymân el-Halvetî el-Âmidî ein Reuegelöbnis ab, nachdem er zuvor alle Musikinstrumente und Weingefäße hatte zerbrechen lassen, sich von der Gesellschaft seiner Zechgenossen zurückgezogen und den Vortrag von Liedern mit der Rezitation des Korans vertauscht hatte. Und in dieser Gesinnung verharrte er, bis ihn schließlich das Geschick erfaßte und er aus dieser Welt hienieden in ein besseres Jenseits schied.
Die Friedhöfe der Muslime
Die Faszination der osmanischen Friedhöfe mit ihren auffälligen Kopf- und Fußsteinen ist groß. Die Vielfalt der Turban- und Fesformen bzw. Frauenkopfbedeckungen erweckt den Eindruck menschengestaltiger Skulpturen. Pflanzliche Ornamente wie Zypressen, Palmen, Wein- und Rosenstöcke, Blumenvasen, Fruchtschalen, bevorzugt auf den Fußsteinen, erweitern die Vielfalt. Wem – wie 99 % der Istanbuler – die kunstvollen Inschriften ein Rätsel bleiben, kann seit einiger Zeit im inneren Hof der Süleymaniye Namen, Ränge und Todesdaten auf kleinen Plexiglastafeln ablesen. Der Verlust an Grabsteinen durch den Wohnungs- und Straßenbau, aber auch wegen der ständigen Verdrängung durch «Nachzügler» ist immens. In den ersten Jahrzehnten der Republik wurden sogar Stelen des riesigen Karacaahmed-Gräberfelds in Üsküdar für die Befestigung von Wegen verwendet. Die erhaltenen stammen zum größten Teil aus dem 18. bis frühen 20. Jahrhundert. Stelen aus den ersten zwei bis drei Jahrhunderten nach der Eroberung gehören zu den Seltenheiten. In den letzten Jahren hat man an mehreren Orten ältere Grabsteine wieder zusammengefügt und aufgerichtet (zum Beispiel im Garten der Sokullu Mehmed Paşa Camii).
Als historische Quelle sind die Grabstelen überaus wertvoll. Die Steine enthalten ja nicht nur Segenswünsche oder kleine Gedichte, sondern neben dem Namen und Todesdatum oft umfangreiche genealogische Beziehungen. Für die historische Frauenforschung sind solche Angaben unschätzbar, weil andere Schriftquellen die Existenz von Müttern, Gattinnen und Töchtern meist ignorieren. Neben vielen immer wiederkehrenden Wendungen gibt es auch Grabinschriften von großer Originalität. Für einen 1901/02 verstorbenen Uhrmacher wurde etwa folgender Text verfasst:
Hasan Kazım Efendi besaß einen rühmenswerten Charakter,
selbst war er Uhrmacher, seine Gespräche waren sehr angenehm,
zweiundvierzig Jahre war er alt, da trank er den Wein des Todes,
in die Uhr seines Lebens warf eine Feder die hartnäckige Verletzung.
XIV.
Ausflugsorte für Groß und Klein
Saadâbâd, ein osmanisches Trianon
Die beiden Flüsschen, die in das «Goldene Horn» münden, wurden von den Ausländern «Süße Wasser Europas» genannt. Die Istanbuler sprachen prosaisch von Kağıdhâne, weil sich dort eine Papierfabrik befand. Kağıdhâne war bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts
das
Naherholungsgebiet der Großstadt. Man konnte die von hohen Bäumen umgebenen Wiesen auf dem Wasserweg über das Goldene Horn erreichen oder die Landstraße von Eyüp aus benutzen. Auch der Hof und die Oberschicht haben das idyllische Tal von Anfang an geschätzt. Schon unter Süleymân I. fand hier eine Beschneidungsfeier statt, bei der Pferderennen und Bogenschießen zum Unterhaltungsprogramm gehörten. Unter Ahmed III. wurde der beim Historiker Râşid als «unvergleichlicher Lustort für Groß und Klein» bezeichnete Bereich für sein neues Sommerschloss von Grund auf umgestaltet. Man hat die Anlage wegen ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit mit dem Großen Trianon und anderen Schlössern am Rande von Paris verglichen. Es steht zumindest fest, dass Mehmed Çelebî, ein osmanischer Gesandter in Paris, 1721 einen ausführlichen Bericht von den französischen Residenzen nach Istanbul brachte.
Der Großwesir Nevşehirli İbrâhîm Pascha leitete ab 1722 persönlich die Baumaßnahmen, denen die Reinigung des Wasserlaufs vorausging. İbrâhîm erschien bis zu zweimal pro Woche, um die Arbeiten zu beaufsichtigen, und sparte auch nicht mit Geschenken und Prämien, um das fertige Schloss in der auch für die osmanischen Schnellbaumeister erstaunlichen Zeit von 60 Tagen seinem Herrn übergeben zu können. Ein Archivdokument belegt, dass die Anpflanzung von 450 Laubbäumen, die man mit Schiffen heranschaffen musste, angeordnet wurde. Râşids Beschreibung der Baumaßnahmen beginnt mit der Begradigung des Flusslaufes. Dieser von den Dichtern als «Silberfaden» gepriesene Kanal ist heute noch gut vor
Weitere Kostenlose Bücher