Italienische Novellen, Band 1
fragte, wer es sei. Carlo meinte, Angelica habe ihn durch ihr Betreiben gerettet; da er aber die Haustür verschlossen fand und das Weinen seiner Schwester hörte, wunderte er sich von neuem und noch mehr. Doch antwortete er: »Mach auf, meine Schwester! Ich bin dein Bruder Carlo.«
Angelica erkannte ihn gut an der Stimme und lief voll Freude und Verwunderung in größter Eile an die Tür, riß sie auf und stürzte dem Bruder an den Hals, mit so überströmender Liebe und Wonne, als ob er vom Tode auferstanden wäre. Einige verwandte Frauen waren hergekommen, um Angelica zu trösten. Als diese nun Carlo befreit sahen, machten sie sogleich den Ihrigen die Anzeige, und so kam es, daß in kurzem Carlos Haus ganz angefüllt ward von seinen Angehörigen, die herbeiströmten, teils um sich zu entschuldigen, teils um ihre Freude über seine Errettung auszusprechen. Zugleich erklärten sie, daß keiner von ihnen die Buße für ihn erlegt habe, was einesteils Carlo einigen Unmut erregte, andernteils seine Verwunderung vermehrte. Daher konnte er den Tag kaum erwarten, um auszugehen und sich zu erkundigen, wem er die Erhaltung seines Lebens verdanke. Daher ging Carlo am folgenden Morgen zu dem schon genannten Kämmerling und fragte ihn bloß, wer der sei, der für ihn tausend Gulden bezahlt habe. Der Kämmerling antwortete: »Carlo, gestern abend kam Anselmo von Misser Salimbene, bezahlte für dich tausend Golddukaten und bat mich zugleich um eine Anweisung zu deiner Freilassung. Ferner muß ich dir sagen: als ich ihm den Überschuß der Dukaten über tausend Gulden herausgeben wollte, sagte er, es sei dein Wunsch, tausend Golddukaten vollständig zu erlegen; und wenn dem so ist, so ist die Schrift im reinen; wäre es nicht so und du verlangst den besagten Überschuß, so wisse, daß er bereit liegt.«
Carlo antwortete auf die Rede des Kämmerlings alsbald: »Missere, wenn es so ist, wie Ihr sagt, so ist alles gut; ich verlange keine weitere Zurückerstattung.«
Damit nahm er Abschied und kehrte nach Hause zurück. Er besann sich nun sogleich gewisser verliebter Blicke, die er früher Anselmo der Angelica hatte zuwenden sehen, und gedachte ebenso der früheren Fehden, und da er wohl wußte, daß er eine so große Wohltat nicht durch eigenes Verdienst von seiner Seite sich erworben habe, kam er zuletzt, da er einen scharfen Verstand und viel Geist besaß, auf den Schluß, nichts anderes habe Anselmo zu dieser Freigebigkeit bewegen können, als die Bereitwilligkeit der Liebe, die, je mehr sie einem edeln und von Klugheit, Gewandtheit« und Sitte gezügelten Manne innewohnt, um so mehr ihre Kraft zeigt. Er entschloß sich daher sogleich, sobald er bemerkte, daß Anselmo Angelica sein Leben gewidmet habe, das seinige nebst dem Angelicas der freien Willkür Anselmos zu überlassen. Er verschob jedoch diesen Plan mit größtem Geheimnis, bis er Anselmo nach seiner Rückkehr nach Siena sehe.
Eines Samstagmorgens begegnete er ihm. Sobald er ihn erblickte, kehrte er nach Hause zurück, rief Angelica in sein Gemach und sprach zu ihr: »Meine liebste Schwester, sooft ich überlege, wie groß in vergangenen Tagen der Adel unserer Familie und die Vortrefflichkeit unserer Vorfahren gewesen ist, fühle ich meine Seele aufs höchste beschwert, da ich uns jetzt in solche Bedrängnis versetzt sehe, daß wir mit großer Mühe unser armes Leben erhalten. Aber noch weit mehr müßte es mich schmerzen, wenn ich meinen müßte, unser Sinn entspreche nicht mehr dem unserer Vorfahren, die niemals zugaben, daß andere, wenn auch Reiche und Mächtige, es ihnen in Edelmut zuvortaten; denn durch die Niedrigkeit der Gesinnung müßte ich glauben, daß wir der Natur unrecht tun, die uns ein edles Blut und einen großen Sinn gegeben hat. Allerdings begegnet mir eine Zufriedenheit unter vielen Bedrängnissen, die nämlich, daß, während in den letzten Tagen der größte Edelmut gegen uns geübt worden ist, der bewundernswürdigste vielleicht, dessen sich unsere Familie je zu erfreuen gehabt hat, – daß uns das Glück auch die Möglichkeit gelassen hat, diese Tat, sofern du es willst, dankbar zu erwidern. Wie du weißt, wäre mir seit mehreren Tagen der Kopf abgeschnitten, und deine Ehre und dein Ruf wäre in Gefahr gekommen, da wir durchaus nicht imstande waren, die mir auferlegte Buße von tausend Gulden zu erlegen; keiner unserer Angehörigen wollte ins Mittel treten, wie dir wohl bekannt ist; da kam der große Edelmut und Hochsinn Anselmos von Misser
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