Ivo Andric
weißen,
dichten und buschigen Augenbrauen aufstrahlen, das Gesicht eines Mannes, der
seit seiner Geburt gelernt, selbständig zu denken, seine Gedanken offen
auszusprechen und sie gut zu verteidigen.
Ohne vieles Zögern und ohne große
Worte antwortete er unmittelbar dem Popen und dem Wachtmeister:
»Jetzt, da das Unglück geschehen,
gibt es nichts mehr zu beweisen. Wer wird bei klarem Verstande die Hand gegen
sich aufheben? Und wer könnte es auf sein Gewissen nehmen, ihn wie einen
Gottlosen einzugraben, irgendwo hinter dem Zaun und ohne Priester? Nein, du
mein lieber Herr, Gott lasse dich leben, geh und befiehl, daß man den Toten
einsarge, damit wir ihn möglichst bald begraben. Und das auf dem Friedhof, wo
denn sonst! Ich werde ihn einsegnen. Und wenn später irgendwann einmal ein
Pfarrer seines Bekenntnisses kommt, dann mag der hinzufügen und verbessern, was
nach seiner Meinung nicht gewesen ist, wie es sein sollte.«
Und als Draschenowitsch gegangen,
wandte er sich noch einmal an Popen Joso, der beschämt und überrascht war:
»Wer wollte einem Christenmenschen
den Friedhof verweigern? Und warum sollte ich ihn nicht einsegnen? War es denn
noch nicht genug Unglück, daß er ums Leben gekommen ist? Und da drüben, da
mögen die nach seinen Sünden fragen, die auch uns alle nach den unsrigen fragen
werden.«
So blieb der junge Mensch, der auf
der Kapija gefehlt hatte, für immer in der Stadt. Begraben wurde er am nächsten
Morgen unter dem greisen Totengesang des Popen Nikola, den Dimitrije, der
Küster, begleitete.
Einer nach dem anderen traten die
Streifkorpsmänner an das Grab und warfen eine Handvoll Erde auf den Sarg.
Während zwei Totengräber schnell arbeiteten, umstanden sie noch einige Augenblicke
das Grab, alswarteten sie auf irgendeinen Befehl und schauten, wie auf der an
deren Seite des Flusses eine gerade, weiße Rauchsäule aufstieg. Dort
verbrannten sie auf der grünen Fläche oberhalb der Kaserne das blutige Stroh
aus Feduns Strohsack.
Das jähe Schicksal des jungen
Streifkorpsmannes, dessen Namen niemand mehr wußte, der aber mit seinem Leben
für einige Augenblicke der Unachtsamkeit und der Verzückung im Frühling auf
der Kapija bezahlt hatte, gehörte zu jenen Ereignissen, für die die Menschen in
der Stadt viel Verständnis besitzen und die sie lange behalten und
wiedererzählen. Die Erinnerung an den empfindsamen, unglücklichen jungen
Menschen hielt sich viel länger als die Wache auf der Kapija.
Schon im nächsten Herbst ließ der
Aufstand in der Herzegowina nach. Einige der bekanntesten Anführer,
Mohammedaner und Christen, flohen nach Montenegro oder in die Türkei. Hier in
der Gegend blieben noch ein paar Hajduken, die in Wirklichkeit nichts mit dem
Aufstand gegen die Rekrutenaushebung gemein hatten, sondern auf eigene Rechnung
räuberten. Aber auch sie wurden gefaßt oder versprengt. Die Herzegowina beruhigte
sich. Bosnien gab seine Rekruten ohne Widerstand. Aber der Abmarsch der ersten
Rekruten aus der Stadt war weder leicht noch einfach.
Aus dem ganzen Kreise waren nicht
mehr als etwa hundert Rekruten ausgehoben. Aber an dem Tage, da sie sich vor
dem Amtsgebäude melden sollten, die Bauern mit ihren Taschen und die wenigen
Städter mit ihren Holzkoffern, sah es aus, als herrsche in der Stadt eine
Sterbeseuche oder ein Aufstand. Viele Rekruten hatten seit den frühen
Morgenstunden unaufhörlich alles mögliche durcheinander getrunken. Die Bauern
waren in sauberen, weißen Hemden. Nur wenige tranken nicht, sondern saßen
neben ihren Habseligkeiten an der Mauer und dösten vor sich hin. Die meisten
waren erregt, gerötet vom Trinken und verschwitzt von der Hitze des Tages.
Vier, fünf Burschen aus dem gleichen Dorfe hatten einander umfaßt, steckten die
Köpfe zusammen, und schwankend wie ein lebendes Geflecht begannen sie ihr
unbeholfenes und gedehntes Lied, als seien sie allein auf der Welt.
»Ooh, du Määääädcheeen, oooooh!«
Viel größere Aufregung als die
Rekruten selbst schufen die Frauen, Mütter, Schwestern und Angehörigen dieser
Burschen, die aus den abgelegenen Dörfern gekommen waren, um sie zu begleiten,
sich noch einmal richtig sattzusehen, sich auszuweinen und auszujammern und
ihnen unterwegs noch eine letzte Liebe und Zärtlichkeit zu erweisen. Der Markt
an der Brücke war voll von diesem Frauenvolk. Sie saßen wie versteinert, als
warteten sie auf ihr Urteil, sprachen miteinander und trockneten von Zeit zu
Zeit ihre Tränen mit einem Zipfel des
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