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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Kopftuches. Vergebens hatte man ihnen
schon vorher auf den Dörfern klargemacht, daß die Jungen weder in den Krieg
noch in die Sklaverei gingen, daß sie in Wien dem Kaiser dienen, genug zu
essen, Kleidung und Schuhwerk haben und nach einer Frist von zwei Jahren nach
Hause zurückkehren würden, daß auch die jungen Männer aus allen anderen
Gegenden der Monarchie beim Militär dienten, und sogar drei Jahre. Alles dies
ging an ihnen wie ein Wind, fremd und völlig unverständlich, vorüber. Sie
gehorchten nur ihren Trieben und konnten sich nur von ihnen leiten lassen.
Diese uralten, überkommenen Triebe aber drängten ihnen die Tränen in die Augen
und die Jammerlaute in die Kehlen und zwangen sie, hartnäckig, solange es
irgend ging, und sei es nur noch mit einem letzten Blick, den zu begleiten,
den sie mehr liebten denn ihr eigenes Leben, den aber jetzt ein unbekannter
Kaiser in ein unbekanntes Land zu unbekannten Versuchungen und Pflichten
fortführte. Vergeblich mischten sich auch jetzt Gendarmen und Beamte aus dem
Amtsgebäude unter sie, versicherten ihnen, es sei kein Grund zu so übertriebenem
Kummer, und rieten, nicht den Weg zu versperren, nicht auf der Landstraße
hinter den Rekruten herzulaufen und keine Unordnung und keinen Anstand zu
machen, denn ihre Söhne würden alle gesund und lebend zurückkehren. Alles war
völlig vergeblich. Die Frauen hörten ihnen zu, gaben ihnen stumpf und unterwürfig
recht, brachen aber sofort danach erneut in Tränen und Wehklagen aus. Es
schien, als liebten sie ihre Tränen und ihr Wehklagen ebensosehr wie den, um
den sie weinten.
    Als aber die Stunde des Abmarsches
gekommen war, die Burschen sich, wie vorgeschrieben, in Viererreihen
aufstellten und über die Brücke zogen, da entstand ein Auflauf und Gedränge, in
dem auch die besonnensten Gendarmen kaum ihre Kaltblütigkeit bewahren konnten.
Die Frauen liefen, und, sich drängend, daß jede neben einem der ihren sei,
schoben sie einander und stießen sich zu Boden. Ihr Wehgeschrei mischte sich
mit den Zurufen, Beschwörungen und letzten Ermahnungen. Einige liefen sogar vor
den Zug der Rekruten, den vier Gendarmen anführten, warfen sich ihnen vor die
Füße, schlugen sich auf die bloßen Brüste und schrien:
    »Über mich! Nur über mich
Unglückliche!«
    Die Gendarmen hoben sie mit Mühe auf
und zogen vorsichtig Stiefel und Sporen aus ihrem aufgelösten Haar und ihren
verwickelten Röcken.
    Einige der Rekruten trieben beschämt
selbst die Frauen mit ärgerlichen Bewegungen an, nach Hause zu gehen. Aber die
meisten Burschen sangen oder überschrien sie, was noch den allgemeinen Lärm
vergrößerte. Die paar Städter sangen, bleich vor Aufregung, geschlossen nach
städtischer Art:
    Sarajewo und Bosnien,
    Jeder Mutter Herz muß bluten,
    Wenn sie ihren jungen Sohn
    Schickt dem Kaiser als Rekruten.
    Das Lied rief noch stärkeres Weinen
hervor.
    Als sie endlich irgendwie die Brücke
überschritten hatten, auf der sich der ganze Zug verwirrte, und auf den Weg
nach Sarajewo gekommen waren, erwartete sie auf beiden Seiten in langer Reihe
die Stadtbevölkerung, die hinausgegangen war, um den Rekruten das Geleit zu
geben und sie zu beweinen, als führe man sie zum Erschießen. Und hier beweinte
sie manche Frau, obgleich sie unter den Scheidenden niemand der ihrigen hatte.
Denn jede hatte etwas, worüber sie weinen konnte, und am süßesten weint es
sich um fremden Kummer.
    Aber nach und nach wurden diese
Reihen immer dünner. Auch einzelne der Bäuerinnen blieben zurück. Am
hartnäckigsten waren die Mütter, die neben dem Zug herliefen wie fünfzehnjährige
Mädchen, die Gräben neben der Straße von einer Seite zur anderen übersprangen
und versuchten, die Gendarmen zu täuschen und in möglichster Nähe ihres Kindes
zu bleiben. Die Burschen sahen dies, wandten sich um, bleich vor Aufregung und
einer gewissen Scham, und riefen ihnen zu:
    »Nun geh schon nach Hause, wenn ich
es dir doch sage!«
    Aber die Mütter folgten noch lange,
blind für alles, außer für ihren Sohn, den man fortführte, und ohne auf etwas
anderes zu hören als ihr eigenes Weinen.
    Dann waren auch diese erregenden
Tage vorüber. Die Leute verstreuten sich wieder auf ihre Dörfer, und in der
Stadt wurde es ruhig. Als aber die ersten Briefe und die ersten Bilder der Rekruten
aus Wien eintrafen, wurde alles leichter und erträglicher. Die Frauen weinten
lange über diesen Briefen und Bildern, aber leichter und ruhiger.
    Das Streifkorps wurde aufgelöst

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