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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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und
verließ die Stadt. Auf der Kapija stand schon seit langem keine Wache mehr,
sondern die Leute saßen dort wieder, genau wie sie auch vorher dort gesessen
hatten.
    Schnell vergingen die zwei Jahre.
Und in diesem Herbst kehrten wirklich die ersten Rekruten zurück, sauber,
geschoren und gut genährt. Die Leute versammelten sich um sie. Sie aber erzählten
vom Soldatenleben und der Größe der Städte, die sie gesehen, und mischten dabei
in ihr Gespräch ungewöhnliche Namen und fremde Ausdrücke. Bei der Aushebung
des neuen Jahrganges gab es schon weniger Tränen und Aufregung.
    Überhaupt wurde alles leichter und
gewohnter. Eine Jugend wuchs heran, die keine klaren und lebhaften Erinnerungen
mehr an die Türkenzeit besaß und schon in vielem die neue Lebensform
angenommen hatte. Aber auf der Kapija lebte man nach den alten Gewohnheiten der
Stadt. Trotz der neuen Art, sich zu kleiden, trotz den neuen Berufen und
Geschäften, wurden sie dort in ihren Gesprächen, die für sie ein wahres
Bedürfnis des Herzens und der Phantasie waren und blieben, wieder zu Wischegradern,
wie sie es seit ewigen Zeiten gewesen. Die Rekruten zogen ohne Aufruhr und
Gedränge ab. Von den Hajduken hörte man nur noch in den Erzählungen der
Älteren. Die Streifkorpswache wurde ebenso vergessen wie die einstige
türkische, als das Blockhaus auf der Kapija stand.

14
    Das Leben in der Stadt an der Brücke
wurde immer lebhafter, es erschien immer geordneter und reicher und erhielt ein
gleichmäßiges Tempo und ein bis dahin unbekanntes Gleichgewicht, jenes
Gleichgewicht, nach dem jedes Leben überall und seit jeher strebt, aber nur
selten, teilweise und vorübergehend erreicht.
    In den fernen und uns unbekannten
Städten, aus denen nun auch dieses Gebiet regiert und verwaltet wurde,
herrschte damals – im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts–in der Tat
eine jener seltenen und kurzen Windstillen in den menschlichen Beziehungen und
in den gesellschaftlichen Geschehnissen. Etwas von dieser Windstille spürte man
auch in diesen abgelegenen Gegenden, so wie sich etwa eine große Stille des
Meeres in den entferntesten Buchten fühlbar macht.
    Es waren dies jene drei Jahrzehnte
verhältnismäßigen Wohlstandes und scheinbaren Friedens der Ära Franz Josephs,
als mancher Europäer glaubte, er habe die unfehlbare Formel für die Erfüllung
des jahrhundertealten Traumes von einer vollen und glücklichen Entwicklung der
Persönlichkeit in allgemeiner Freiheit und Fortschritt gefunden, als das
neunzehnte Jahrhundert vor den Augen von Millionen Menschen seine vielfältigen
und trügerischen Gaben und seine Fata Morgana der Bequemlichkeit, Sicherheit
und des Glücks, zu erschwinglichen Preisen und auf Abzahlung für alle und jeden
ausbreitete. In diese abgelegene bosnische Stadt drang von diesem ganzen Leben
des neunzehnten Jahrhunderts nur ein schwacher Abglanz und nur in dem Maße und
in der Form, in der ihn diese zurückgebliebene orientalische Welt aufzunehmen
und auf ihre Art zu erfassen und anzuwenden vermochte.
    Nachdem die ersten Jahre vergangen waren,
in denen man mißtraute, sich nicht schicken wollte, zögerte und alles nur als
vorübergehend empfand, begann die Stadt ihren Platz in der neuen Ordnung der
Dinge zu finden. Das Volk fand Ordnung, Verdienst und Sicherheit. Und das
genügte, damit das Leben, das äußere Leben, auch hier in den »Bahnen der
Vervollkommnung und des Fortschritts« sich fortbewegte. Alles übrige wurde
zurückgedrängt in jenes dunkle Unterbewußtsein, in dem die Grundgefühle und die
unzerstörbaren Überzeugungen der einzelnen Rassen, Glaubensrichtungen und
Kasten leben, gären und sich, scheinbar tot und begraben, für spätere, ferne
Zeiten ungeahnter Veränderungen und Zusammenstöße vorbereiten, ohne die die
Völker – so scheint es – nicht leben können, am wenigsten aber dieses Land.
    Die neue Obrigkeit hatte nach den
ersten Mißverständnissen und Konflikten bei den Menschen einen bestimmten
Eindruck der Festigkeit und Dauer hinterlassen. (Auch sie selbst war von dieser
Illusion erfüllt, ohne die es keine ständige und starke Regierung gibt.) Sie
war unpersönlich, mittelbar und schon daher leichter zu ertragen als die alte
türkische Herrschaft. Alles, was an ihr grausam und habgierig war, das verbarg
sie hinter Würde, Glanz und geheiligten Formen. Die Menschen fürchteten die
Obrigkeit, aber so, wie man Krankheit oder Tod fürchtet, und nicht, wie man vor
Bosheit, Not und Gewalt zittert. Die

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