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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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denen man einst nach
Sarajewo reiste, waren nun ohne Beschäftigung. Die Reise dauerte nicht mehr wie
bisher zwei volle Tage mit Übernachtung in Rogatitza, sondern nur noch vier
Stunden. Und das waren jene Zahlen, vor denen dem Volk der Verstand stockte,
aber das Volk sprach von ihnen auch weiterhin ohne Verstand, voller Erregung
und errechnete alle Gewinne und Ersparnisse, welche die Geschwindigkeit
brachte. Wie Wunderwesen wurden die ersten Städter angeschaut, die in einem
Tage nach Sarajewo gereist waren, dort irgendein Geschäft erledigt hatten und
am Abend nach Hause zurückkehrten.
    Eine Ausnahme bildete Alihodscha,
auch hierin mißtrauisch, starrköpfig, geradeheraus und mit seiner eigenen
Meinung, wie auch in allem anderen. Jenen, die sich der Geschwindigkeit rühmten,
mit der sie jetzt ihre Geschäfte erledigten und ausrechneten, wieviel Zeit,
Mühe und Geld man sparte, erwiderte er mürrisch, es sei nicht wichtig, wieviel
Zeit der Mensch spare, sondern was er mit dieser ersparten Zeit beginne; wenn
er sie schlecht verwende, dann sei es besser, er habe sie nicht. Er bewies,
daß es nicht die Hauptsache sei, daß der Mensch schnell fortkomme, sondern
wohin er gehe und zu welchem Zwecke, und daß Geschwindigkeit daher auch nicht
immer einen Vorzug bedeute.
    »Wenn du zur Hölle gehst, dann ist
es besser, du gehst langsam«, sprach er bissig zu einem jungen Kaufmann; »du
bist ein Narr, wenn du glaubst, daß der Schwabe Geld ausgegeben und die
Maschine hergeführt hat, nur damit du schneller reisen und deine Geschäfte
schneller abschließen kannst. Du siehst nur, daß du fährst, aber du fragst
nicht, was die Maschine außer dir und solchen, wie du es bist, noch fortbringt
und heranschafft. Denn das will dir nicht in den Kopf. Fahre du nur,
Freundchen, wohin du immer willst, ich fürchte nur, daß dir dieses Reisen eines
Tages übel bekommen wird. Es wird noch die Zeit kommen, daß dich der Schwabe
auch dahin fährt, wohin es dir nicht recht ist und wohin du nicht zu fahren
gedachtest.«
    Und so oft er das Pfeifen der
Lokomotive hörte, die den Steilhang oberhalb des Steinernen Chan überquerte,
runzelte Alihodscha die Stirn, seine Lippen bewegten sich in unverständlichem
Geflüster, und, aus seinem Laden auf die steinerne Brücke unter dem ewig
gleichen Gesichtswinkel blickend, spann er seinen alten Gedanken weiter: daß
auch die größten Bauwerke auf ein Wort gegründet seien und daß sich
Friede und Bestand ganzer Städte und ihrer Einwohner auf den Pfiff einer
Lokomotive gründen könnten. Oder daß es zumindest dem ohnmächtigen Menschen,
der viel erlebt hat und schnell altert, so erscheine.
    Aber auch darin, wie in allem
übrigen, stand Alihodscha als Sonderling und Eigenbrötler allein. Die Bauern
gewöhnten sich allerdings schwer an die Eisenbahn. Sie benutzten sie, aber sie
konnten mit ihr nicht vertraut werden und ihre sonderbaren Gewohnheiten
begreifen. Mit dem ersten Morgengrauen steigen sie von ihrem Berg herab, mit
dem ersten Sonnenstrahl treffen sie in der Stadt ein, und schon bei den ersten
Läden fragen sie aufgeregt jeden, den sie treffen:
    »Ist der Zug schon fort?«
    »Gott erhalte dir deine Gesundheit,
Gevatter, der ist schon lange fort«, lügen herzlos die müßigen Händler aus
ihren Läden.
    »Wirklich?«
    »Morgen fährt wieder einer.«
    Dies alles fragen sie, ohne stehen
zu bleiben, und eilen weiter, während sie Frauen und Kinder, die
zurückbleiben, anschreien.
    So kommen sie im Laufschritt zum
Bahnhof. Da beruhigt sie jemand vom Bahnpersonal und sagt ihnen, sie hätten
sich getäuscht, und es seien noch gute drei Stunden bis zur Abfahrt des Zuges.
Dann atmen sie auf, setzen sich an die Wand des Stationsgebäudes, öffnen ihre
Taschen, frühstücken, unterhalten sich oder schnaufen, aber ständig sind sie
auf dem Sprunge, und, sobald irgendwo eine Güterzuglokomotive pfeift, springen
sie auf, beginnen ihre verstreuten Sachen zusammenzulesen und schreien:
    »Steht auf, der Zug fährt ab!«
    Der Bahnsteigbeamte schimpft mit
ihnen und drängt sie wieder hinaus:
    »Habe ich euch nicht gesagt, daß es
noch mehr als drei Stunden bis zum Abgang des Zuges sind? Was rennt ihr denn
so? Wo habt ihr denn euren Verstand?«
    Sie kehren wieder auf ihre alten
Plätze zurück und setzen sich wiederum nieder, aber Zweifel und Unglaube
verlassen sie nicht. Und beim ersten Pfiff oder nur verdächtigen Geräusch
springen sie wieder auf und stürmen auf den Bahnsteig, um erneut zurückgeschickt
zu

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