Ivo Andric
beinahe ausgesprochen hätten.
Als er sein Mittagsgebet verrichtet
hatte, kam auch Alihodscha, nachdem er nur eine lange Stange quer vor die
Ladentür gestellt hatte, zum Zeichen, daß sein Geschäft geschlossen sei. Schon
seit langer Zeit waren die Aufrufe nicht mehr in türkischer Sprache
angeschlagen, und der Hodscha vermochte sie nicht zu lesen. Ein Junge las die
Bekanntmachung völlig mechanisch, wie in der Schule:
»PROKLAMATION
an das bosnische und hercegovinische
Volk
Wir, Franz Josef I., römischer
Kaiser von Österreich, König von Böhmen usw. und apostolischer König von
Ungarn, an die Bewohner Bosniens und der Hercegovina.
Als vor einem Menschenalter unsere
Truppen die Grenzen eurer Länder überschritten, ...«
Alihodscha fühlte, wie ihm das
rechte Ohr unter der weißen Hodschabinde brannte, und, als sei es gestern
gewesen, erschien vor seinem geistigen Auge der Streit mit Karamanli, die
Gewalt, die man ihm damals angetan, dann das rote Kreuz, das in seinen Tränen
schwamm, während ihn der schwäbische Soldat vorsichtig befreite, und
schließlich das weiße Plakat mit dem damaligen auch türkischen Aufruf an das
Volk.
Der Junge las weiter:
»... ward euch die Zu–Zusicherung,
daß sie nicht als Feinde, sondern als Freunde kämen, mit dem festen Willen, den
Übeln zu steuern, an denen eu–euer Va–Vater-Vaterland seit vielen Jahren so
schwer gelitten hatte.
Dieses Wort, in einem ernsten
Au–Augen–Augenblick ge–geben, ...«
Alle erhoben ein Geschrei gegen den
ungeübten Vorleser, der sich, verwirrt und rot geworden, unter der Menge
verlor. An seine Stelle aber trat ein Unbekannter im Ledermantel und begann,
als habe er nur darauf gewartet, schnell und fließend, wie ein Gebet, das er
seit langem auswendig kennt, vorzulesen.
»Dieses Wort, in einem ernsten
Augenblick gegeben, wurde redlich eingelöst. Es war das stete Bemühen Unserer
Regierung, in ruhiger Gesetzlichkeit durch emsiges Schaffen das Land einer
glücklicheren Zukunft entgegenzuführen.
Zu Unserer großen Freude dürfen wir
sagen, der Samen, der damals in die Furchen eines aufgewühlten Bodens gestreut
wurde, ist reichlich aufgegangen. Ihr selbst müßt es als Wohltat empfinden,
daß an Stelle von Gewalt und Unterdrückung Ordnung und Sicherheit eingezogen,
daß Handel und Wandel in steter Ausbreitung begriffen sind, daß sich der
sittigende Einfluß vermehrter Bildung geltend gemacht hat und daß unter dem
neuen Schirm einer geordneten Verwaltung jeder der Früchte seiner Arbeit
frohzuwerden vermag. Auf dieser Bahn rasch vorwärts zu schreiten, ist unser
aller ernste Pflicht.
Wir halten die Zeit für gekommen,
den Bewohnern der beiden Länder einen neuerlichen Beweis Unseres Vertrauens zu
ihrer politischen Reife zu geben. Um Bosnien und die Hercegovina auf eine
höhere Stufe des politischen Lebens zu heben, haben Wir Uns entschlossen, den
beiden Ländern verfassungsgemäße Einrichtungen, welche deren Verhältnissen und
den allgemeinen Interessen Rechnung tragen, zu gewähren und so eine
gesetzliche Grundlage für die Vertretung ihrer Wünsche und Bedürfnisse zu
schaffen.
Ihr sollt mitreden können, wenn
fürderhin über die Angelegenheiten eurer Heimat entschieden wird, die so wie
bisher eine gesonderte Verwaltung haben soll. Für die Einführung dieser
Landesverfassung bildet aber die Schaffung einer klaren und unzweideutigen
Rechtsstellung der beiden Länder die unerläßliche Voraussetzung.
Aus diesem Grunde, wie auch
eingedenk der in alten Zeiten zwischen Unseren glorreichen Vorfahren auf dem
ungarischen Thron und diesen Ländern bestandenen Bande erstrecken wir die
Rechte Unserer Souveränität auf Bosnien und die Hercegovina und wollen, daß
auch für diese Länder die für Unser Haus geltende Erbfolgeordnung zur Anwendung
gelange. Die Bewohner der beiden Länder werden damit all der Wohltaten teilhaf
tig, die eine dauernde Festigung der bisherigen Verbindung zu bieten vermag.
Die neue Ordnung wird eine Bürgschaft sein, daß Kultur und Wohlstand in eurer
Heimat eine gesicherte Stätte finden werden.
Bewohner Bosniens und der
Hercegovina!
Unter den vielen Sorgen, die Unseren
Thron umgeben, sollen die um euer materielles und geistiges Wohl nicht die
letzten sein. Der hehre Gedanke des gleichen Rechtes aller vor dem Gesetze,
die Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung der Landesangelegenheiten, der
gleiche Schutz aller religiösen Bekenntnisse, der Sprache und nationalen
Eigenart, all diese hohen Güter
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