Ivo Andric
werden und geduldig zu warten und wachsam zu lauschen. Denn, soviel man
ihnen auch sagt und beweist, auf dem Grunde ihrer Seele können sie sich die
»Maschine« nicht anders vorstellen denn als eine schnelle, rätselhafte und
hinterhältige schwäbische Schwindeleinrichtung, die dem Unvorsichtigen
davoneilt, während er nur mit den Augen blinzelt, und die auch nur darauf
ausgeht, den reisenden Bauern zu täuschen und ohne ihn abzufahren.
Nur waren dies alles Kleinigkeiten,
diese Ungeschicklichkeit der Bauern, wie Alihodschas Schimpfen und Knurren. Das
Volk trieb mit ihnen seinen Scherz und gewöhnte sich schnell an die Eisenbahn
wie an alles andere, was neuer, leichter und angenehmer war. Es ging auch
jetzt auf die Brücke und saß auf der Kapija, wie es dies immer getan, oder ging
über die Brücke seinen alltäglichen Geschäften nach, aber es reiste in der
Richtung und mit dem Mittel, auf die es die neuen Zeiten hinwiesen. Und schnell
und leicht fand es sich mit dem Gedanken ab, daß der Weg über die Brücke nicht
mehr war, was er einst gewesen: die Verbindung des Ostens mit dem Westen.
Genauer gesagt, in seiner Mehrheit dachte das Volk nicht einmal daran.
Die Brücke aber stand auch
weiterhin, so wie sie immer gewesen, in der ewigen Jugend vollendeter Ideen
und guter und großer menschlicher Werke, die kein Altern und keine Veränderung
kennen und, so wenigstens scheint es, nicht das Geschick der vorübergehenden
Dinge dieser Welt teilen.
17
Aber dort neben der Brücke, in der
Stadt, mit der sie das Schicksal verbunden hatte, reiften die Früchte der neuen
Zeiten heran. Es kam das Jahr 1908 und mit ihm eine große Beunruhigung und
dumpfe Drohung, die seitdem nicht wieder aufhörten, die Stadt zu bedrücken.
Eigentlich begann es schon viel
früher; irgendwie mit dem Bau der Eisenbahn und mit den ersten Jahren des neuen
Jahrhunderts. Zugleich mit dem Steigen der Preise und mit jenem unfaßbaren,
aber fühlbaren Spiel des Steigens und Fallens der Wertpapiere, der Dividenden
und des Geldes, begann man immer mehr von Politik zu sprechen.
Bisher hatten sich die Leute in der
Stadt ausschließlich mit dem beschäftigt, was ihnen nahestand und bekannt war,
mit ihrem Verdienst und ihrer Zerstreuung, in der Hauptsache nur mit den
Angelegenheiten ihrer Familie und ihres Stadtviertels, der Stadt oder ihrer
Glaubensgemeinschaft, immer aber unmittelbar und begrenzt, ohne viel in die
Zukunft oder zurückzuschauen. Jetzt aber tauchten in den Gesprächen immer
häufiger Fragen auf, die irgendwie ferner und außerhalb dieses Kreises lagen.
In Sarajewo wurden serbische und mohammedanische religiöse und nationale
Parteien und Organisationen gegründet und sofort danach auch ihre
Unterausschüsse in Wischegrad. In die Stadt kamen die neuen Zeitungen, die in
Sarajewo herausgegeben wurden. Lesehallen und Gesangvereine wurden gegründet,
zuerst serbische, dann mohammedanische und schließlich auch jüdische. Die
Gymnasiasten und die Studenten, die an den Universitäten in Wien und Prag
studierten, kamen in den Ferien nach Hause und brachten neue Bücher, Broschüren
und eine neue Ausdrucksweise mit. Durch ihr Beispiel zeigten sie den jüngeren
Städtern, daß die Sprache nicht immer gehemmt sein und das Wort weit hinter dem
Gedanken zurückbleiben müsse, wie die älteren stets meinten und behaupteten. Es
tauchten Namen neuer religiöser und nationaler Organisationen auf breiten
Grundlagen und mit kühneren Zielen und danach auch Arbeiterverbände auf. Damals
hörte man zum ersten Male in der Stadt das Wort »Streik«. Die jungen
Handwerksburschen machten ernste Gesichter. Am Abend führten sie auf der Kapija
miteinander andere unverständliche Gespräche und tauschten kleine Heftchen ohne
Umschlag, mit den Titeln »Was ist Sozialismus?«, »Acht Stunden Arbeit, acht
Stunden Ruhe, acht Stunden Bildung«, »Ziele und Wege des Weltproletariats«
aus.
Den Bauern erzählte man von der
Agrarfrage, von Hörigkeit und vom Frondienst auf den feudalen Gütern. Die
Bauern hörten zu, blickten ein wenig zur Seite, zuckten kaum merklich mit dem
Schnurrbart und runzelten die Stirn, als bemühten sie sich, das alles zu
behalten, um nachher darüber allein nachzudenken oder mit den Ihrigen zu
sprechen.
Es gab noch genug Städter, die auch
weiterhin vorsichtig schwiegen oder solche Neuerungen und eine solche Kühnheit
des Gedankens und der Sprache von sich wiesen. Es gab aber noch mehr unter
ihnen, besonders unter den jüngeren, ärmeren und
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