Ivo Andric
etwa einhundert Brücken und Viadukte und rund hundertdreißig Tunnel
gab und die den Staat vierundsiebzig Millionen Kronen kostete. Das Volk sprach
diese große Millionenzahl aus und blickte dabei irgendwohin in die Ferne, als
bemühe es sich vergebens, dort diesen Berg Geldes zu erschauen, der sich jeder
Rechnung und Übersicht entzog.
»Vierundsiebzig Millionen!« sagte
mancher Städter selbstbewußt und kennerisch, als habe man sie ihm auf die Hand
gezählt. Denn auch in dieser abgelegenen Stadt, in der das Leben in zwei
Dritteln seiner Erscheinungen noch vollkommen orientalisch war, begannen die
Menschen zu Sklaven der Zahlen zu werden und an Statistiken zu glauben.
Vierundsiebzig Millionen, »nicht ganz eine halbe Million, genau 445 782,12
Kronen auf den Kilometer«. So spülte sich das Volk das Maul mit großen Zahlen,
aber es ward davon weder reicher noch gescheiter.
Als die Eisenbahn gebaut wurde,
spürte das Volk zum ersten Male, daß es nicht mehr jener leichte, sichere und
sorglose Verdienst aus den ersten Jahren nach der Besatzung war. Schon in den
letzten paar Jahren waren die Preise für Waren und die alltäglichen Bedürfnisse
sprunghaft gestiegen. Sie stiegen, aber sie fielen nicht wieder, sondern
stiegen nach kürzerer oder längerer Zeit aufs neue. Auch Verdienst und Lohn
waren zwar hoch, aber immer um mindestens zwanzig Prozent geringer als die
Bedürfnisse. Dies war ein irrsinniges und heimtückisches Spiel, das einer
wachsenden Zahl von Menschen das Leben immer häufiger verbitterte, gegen das
man aber nichts vermochte, denn es kam von irgendwoher aus der Ferne, aus jenen
unergründbaren und unbekannten Quellen, aus denen auch die Segnungen der
ersten Jahre gekommen waren. Und viele Bürger, die vor fünfzehn, zwanzig
Jahren, unmittelbar nach der Besatzung, reich geworden, die waren jetzt arme
Leute, und ihre Söhne arbeiteten für fremde Rechnung. Es gab allerdings neue
Leute, die es zu etwas gebracht hatten, aber auch in ihren Händen zerrann das
Geld wie Quecksilber, wie ein Teufelsspiel, nach dem man leicht mit leeren
Taschen und ohne Ehre dastehen konnte. Immer mehr zeigte sich, daß der
Verdienst und das leichtere Leben, das er brachte, auch seine Schattenseiten
hatten, daß das Geld und der es besitzt, nur der Einsatz in einem großen und
sonderbaren Spiel waren, dessen Regeln niemand vollständig beherrschte oder
dessen Ausgang niemand voraussehen konnte. Und nichtsahnend spielten wir alle
in diesem Spiel mit, der eine mit kleinerem, der andere mit größerem Einsatz,
aber alle mit ständigem Risiko.
Im Sommer des vierten Jahres fuhr
der erste Zug, geschmückt mit Grün und mit Fahnen, durch die Stadt. Es gab ein
großes Volksfest. Den Arbeitern wurde ein Mittagessen und Bier in Fässern
spendiert. Die Ingenieure ließen sich an der ersten Lokomotive
photographieren. Die Fahrt war an diesem Tage kostenlos. (»Einen Tag umsonst,
und das ganze Leben für Geld«, verspottete Alihodscha diejenigen, die mit
diesem ersten Zug fuhren.)
Erst jetzt, da die Eisenbahn
fertiggestellt und dem Verkehr übergeben war, sah man, was dies für die Brücke,
für ihre Rolle im Leben der Stadt und für ihr Schicksal überhaupt bedeutete.
Die Bahn verlief längs der Drina; eingeschnitten in den Berg, umrundete sie die
Stadt an jenem Steilhang unterhalb des Mejdan und trat bei den letzten Häusern
am Ufer des Rsaw in die Ebene hinaus. Dort lag der Bahnhof. Der gesamte
Personen- und Warenverkehr mit Sarajewo und über Sarajewo mit der übrigen
westlichen Welt blieb jetzt auf dem rechten Drinaufer. Das linke Ufer und mit
ihm die Brücke starben völlig ab. Über die Brücke kam nur noch das Volk aus den
Dörfern vom linken Drinaufer, Bauern mit ihren kleinen, überladenen Pferden und
Ochsenkarren oder Pferdegespanne, die Holz aus den entfernt gelegenen Wäldern
zum Bahnhof führten.
Der Weg, der von der Brücke über
Lijeska nach Semetsch stieg und von dort über Glasinatz und Romanija nach
Sarajewo führte und einst vom Singen der Kutscher und den Glocken der
Mietpferde widerhallte, begann mit Gras und jenem kleinen, grünen Moos zuzuwachsen,
die das langsame Absterben einzelner Straßen und Bauwerke begleiten. Man
reiste nicht mehr über die Brücke, begleitete niemand mehr über sie, verabschiedete
sich nicht mehr auf der Kapija, saß nicht mehr auf und trank zu Pferde den
Abschiedstrunk, einen Raki »auf den Weg«.
Die Fuhrleute und Pferde, die
gedeckten Reisewagen und altmodischen kleinen Fiaker, in
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