Ivo Andric
müßigen, die all dies als
»frohe Botschaft« aufnahmen, die ihren bisher verschwiegenen und unterdrückten
inneren Bedürfnissen entsprach und jenes Große und Erregende in ihr Leben
hereintrug, das ihnen bisher gefehlt hatte. Beim Lesen der Reden und Artikel,
der Proteste und Memoranden der Religionsund Parteiorganisationen hatte jeder
von ihnen das Gefühl, daß sich in ihm etwas löse, daß sich sein Horizont weite,
die Gedanken befreiten und seine Kräfte mit anderen, fernen Menschen und
Kräften verbänden, an die er bisher nicht gedacht. Jetzt begannen sie einander
unter einem Gesichtswinkel anzuschauen, unter dem sie sich bisher noch nie
gesehen hatten. Kurz um, es schien ihnen, als sei das Leben auch darin geräumiger
und reicher geworden, als wichen die Grenzen des Unerlaubten und Unmöglichen
zurück und als öffneten sich Ausblicke und Möglichkeiten, wie es sie bisher
nicht gegeben, und auch für den, der sie bisher nicht besessen.
Eigentlich hatten sie auch jetzt
weder etwas Neues bekommen, noch sahen sie irgend etwas besser, aber sie
konnten den Blick über ihre städtische Alltagswelt erheben und die erregende
Illusion von Weite und Kraft genießen. Ihre Gewohnheiten änderten sich nicht,
ihre Lebensweise und die Formen des Verkehrs untereinander waren die gleichen,
nur traten in das uralte Ritual des müßigen Sitzens bei Kaffee, Tabak und Raki
ideologische Dispute, kühne Worte und neue Ausdrucksformen ein. Die Menschen
begannen sich zu teilen und zusammenzuschließen, einander nach den neuen
Maßstäben und auf neuen Grundlagen, aber mit der Kraft der alten
Leidenschaften und ewigen Neigungen abzustoßen und anzuziehen.
Auch die äußeren Ereignisse begannen
in der Stadt ihr Echo zu finden. Es kam der Thronwechsel in Serbien, im Jahre
1903, und dann die Änderung des Regimes in der Türkei. Die Stadt, unmittelbar
an der serbischen Grenze und unweit der türkischen gelegen und durch tiefe und
unsichtbare Bande mit dem einen wie dem anderen der beiden Länder verknüpft, empfand
diese Änderungen, erlebte sie mit und deutete sie, obgleich über sie nicht
öffentlich gesprochen, noch alles, was man dachte und empfand, offen gesagt
wurde.
In der Stadt begannen die lebhaftere
Tätigkeit und der Druck der Behörden, zunächst der zivilen, dann auch der
militärischen, fühlbarer zu werden. Und das in einer völlig neuen Form: früher
schaute man, was einer machte und wie er sich führte; jetzt aber fragte man,
was einer dachte und wie er sich ausdrücke. Immer größer wurde die Zahl der
Gendarmen in den umliegenden Dörfern längs der Grenze. Beim Ortskommando traf
ein besonderer Nachrichtenoffizier, der der Volkssprache mächtig war, ein. Die
Polizei verhaftete Jugendliche und belegte sie wegen unvorsichtiger Äußerungen
und verbotener serbischer Lieder mit Geldstrafen. Verdächtige Fremde wurden
ausgewiesen. Auch unter den Städtern selbst kam es zu Streit und Schlägereien
wegen Verschiedenheit in den Auffassungen.
Mit der Einführung der
Eisenbahnverbindung wurden nicht nur das Reisen kürzer und der Warentransport
leichter; irgendwie beschleunigten zur gleichen Zeit auch die Ereignisse ihren
Lauf. Die Menschen in der Stadt bemerkten das nicht einmal, denn die
Beschleunigung geschah allmählich, und sie wurden alle von ihr erfaßt. Das Volk
gewöhnte sich an Aufregung; aufregende Nachrichten waren keine Seltenheiten
und Ausnahmen mehr, sondern alltägliche Neuerungen und ein wahres Bedürfnis.
Das ganze Leben wurde irgendwie ungestüm und rasend schneller, so wie das
Wasser eines Baches seinen Lauf beschleunigt, ehe es über steile Felsen
niederstürzt und zum Wasserfall wird.
Es waren erst vier Jahre vergangen,
seit der erste Zug durch die Stadt gefahren war, da wurde am Vormittag eines
Oktobertages auf der Kapija, unmittelbar unter der Tafel mit der türkischen
Inschrift, wieder einmal ein großes weißes Plakat angeklebt. Drago, der
Bezirksamtsdiener, klebte es an. Zuerst versammelten sich die Kinder und
Müßiggänger, und dann begannen auch die anderen hinzuzukommen. Die
Schreibkundigen lasen, buchstabierten und bei schwierigen Ausdrücken und ungewöhnlichen
Redewendungen stockend, die Bekanntmachung. Die anderen hörten schweigend und
gesenkten Blickes zu, und, nachdem sie gehört und noch einen Augenblick
verweilt hatten, gingen sie fort, ohne den Blick vom Erdboden zu erheben, und
fuhren sich mit der Hand über den Bart und das Gesicht, als wollten sie das
Wort wegwischen, das sie
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