Ivo Andric
jahrhundertewährenden Mühen,
um den Preis des Lebens, des Verzichtes und unter Opfern, größer und teurer
denn das Leben, erreicht und erworben hatten, alles das lag vor ihnen wie ein
zufälliges Erbe und eine gefährliche Gabe des Geschickes. Es schien
phantastisch und unwahrscheinlich, dennoch aber war es Wahrheit: sie konnten
mit ihrer Jugend tun, was sie wollten; in einer Welt, in der die Gesetze der gesellschaftlichen
und persönlichen Moral, bis zu jener fernen Grenze des Kriminellen, gerade in
diesen Jahren in Europa in voller Krise standen, frei gedeutet und von jeder
Gruppe Menschen und von jedem einzelnen angenommen oder verworfen, konnten sie
denken, wie sie wollten, frei und unbeschränkt über alles urteilen; sie durften
sprechen, was sie wollten, und für viele von ihnen bedeuteten diese Worte dasselbe
wie Taten, sie befriedigten ihre Urtriebe nach Heldentum und Ruhm, nach Gewalttätigkeit
und Zerstörung, aber sie zogen weder die Verpflichtung zur Tat noch eine
sichtbare Verantwortung ob des Ausgesprochenen nach sich. Die Begabtesten unter
ihnen verachteten das, was man lernen sollte, schätzten das gering, was sie zu
leisten vermochten, und begeisterten sich an dem, was jenseits ihrer Kraft lag.
Man konnte sich schwerlich einen gefährlicheren Weg ins Leben und einen
sichereren Weg zu außergewöhnlichen Taten oder zum völligen Zusammenbruch denken.
Nur die Besten und Stärksten unter ihnen stürzten sich in der Tat mit dem
Fanatismus von Fakiren in die Aktion und verbrannten dort wie Eintagsfliegen,
nur um von ihren Altersgenossen sofort als Märtyrer und Heilige – denn es gibt
keine Generation ohne ihre eigenen Heiligen – gefeiert und auf das Piedestal
unerreichbarer Vorbilder erhoben zu werden.
Jede menschliche Generation hat ihre
Illusionen über die Zivilisation, die einen glauben teilzuhaben an ihrem
Aufflammen, die anderen, Zeugen ihres Erlöschens zu sein. In Wahrheit lodert
sie und schwelt und erlischt, je nachdem, unter welchem Winkel wir sie
betrachten. Diese Generation, die jetzt auf der Kapija unter den Sternen über
dem Wasser philosophische, gesellschaftliche und politische Fragen diskutiert,
war nur reicher an Illusionen, sonst aber in allem den anderen gleich. Auch sie
hatte das Gefühl, die ersten Feuer einer neuen Zivilisation anzuzünden und die
letzten Flammen einer anderen, die ausbrannte, zu löschen. Das Besondere, das
man von ihr sagen kann, ist, daß es seit langem keine Generation gegeben hatte,
die mehr und kühner phantasiert und vom Leben, von Genuß und der Freiheit
geredet hatte und die dabei weniger vom Leben erhalten sollte, mehr
Schiffbruch litt, versklavt wurde und zugrunde ging. In diesen Sommertagen des
Jahres 1913 aber lag dies alles noch in kühnen, jedoch unbestimmten
Ankündigungen. Alles schien wie ein erregendes und neues Spiel auf dieser
uralten Brücke, die im Mondschein der Julinächte weiß glänzte, sauber, jung und
unveränderlich, vollendet schön und stark, stärker denn alles, was die Zeit
bringen und die Menschen erdenken und tun können.
19
Wie eine warme Sommernacht im August
der anderen gleicht, so waren auch die Gespräch dieser Wischegrader Schüler und
Studenten einander stets gleich oder ähnlich.
Sofort nach einem schnellen und
hastigen Abendessen – denn der Tag verging mit Baden und Sich-Sonnen –, trafen
sie einer nach dem anderen auf der Kapija ein. Janko Stikowitsch, Sohn eines
Tuchschneiders vom Mejdan, studierte schon vier Semester Naturwissenschaften
in Graz. Das war ein magerer Jüngling mit scharfem Profil und glattem,
schwarzem Haar, eitel, empfindlich, unzufrieden mit sich selbst, aber mehr
noch mit seiner Umgebung. Er las viel und verfaßte unter einem bereits bekannten
Pseudonym Artikel für die jugoslawischen revolutionären Jugendzeitschriften,
die in Prag und Zagreb erschienen. Er schrieb auch Gedichte und veröffentlichte
sie unter einem anderen Pseudonym. Er hatte schon eine Gedichtsammlung vorbereitet,
die der Verlag »Zora«, Morgenröte (»Verlagsanstalt für nationale Schriften«),
herausgeben sollte. Außerdem war er ein guter Redner auf
Studentenversammlungen. Welimir Stewanowitsch, ein gesunder und kräftiger
junger Mensch, ein Adoptivkind nicht ganz geklärter Herkunft, ironisch, real,
sparsam und fleißig. Er studierte Medizin in Prag. Jakob Herak, Sohn des gutmütigen
und bekannten Wischegrader Briefträgers, ein schwarzer, schmächtiger Jurist,
mit scharfem Blick und schnellen Worten, Sozialist,
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